«Im Laufe der Jahrhunderte wurden viele Theorien zur Ich-Auflösung, zum `Tod` des Egos in der spirituellen oder religiösen Erfahrung aufgestellt. Aber von Zeit zu Zeit muss man sich wieder von jeglichem idealisierten Begriffsrahmen befreien und sich der verwirrenden Vielfalt des realen kontemplativen Erlebens stellen. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir uns mit phänomenologischen Berichten auseinandersetzen, die von wirklichen Meditierenden in der heutigen Welt verfasst wurden.»
Der Elefant und die Blinden, S. 577 f.

Thomas Metzinger versammelt in diesem Buch mehr als 500 Erfahrungsberichte von Meditierenden aus 57 Ländern. Es handelt sich um die erste umfassende Darstellung der Erfahrung des reinen Bewusstseins weltweit. Dabei verbindet der renommierte Philosoph und Bewusstseinsforscher Meditationserfahrungen aus unterschiedlichsten Traditionen, Kulturkreisen und Epochen mit Erkenntnissen aus den kognitiven Neurowissenschaften und neusten Einsichten der Bewusstseinsforschung und Philosophie des Geistes. Dieses wegweisende Buch hebt die Meditationsforschung auf ein neues Niveau und leistet einen bedeutenden Anstoss zur Entwicklung einer Bewusstseinskultur, die in unserer von globalen Krisen bedrohten Welt von unschätzbarem Wert ist. Die Zeit drängt, die Potentiale der Meditation in unsere Bildungseinrichtungen und Institutionen zu implementieren, so dass zukünftige Generationen Ressourcen und Einsichten gewinnen, achtsam wachsen und kraftvoll wirken können. Für jede soziale Bewegung und kulturelle Innovation gibt es, so Metzinger, ein «optimales Zeitfenster» gesellschaftlicher Integration von Erkenntnissen und Praktiken, «will man nicht Gefahr laufen, dass sie in Vergessenheit geraten und der Gesellschaft wieder verloren gehen». (S.880) Dies ist ein Buch, das alle lesen sollten und insbesondere Verantwortungsträger:innen aus Bildung, Politik und Wirtschaft, denn Sie sind es vor allem, die gesellschaftlichen Wandel initiieren könnten.

Metzingers Buch & Zen: Sprache für das Nicht-Sprachliche

«Viele Worte, viele Gedanken – je mehr es sind, desto weniger treffen sie zu.»
Aus dem Jinjinmei (6. Jh.) (S.49)

«Versuche nicht, dieses Gewahrsein zu beschreiben, das jenseits des Denkens liegt.
Verfälscht es nicht mit begrifflicher Analyse, sondern lasst ihm freien Lauf!»
Rgyal ba Yang dgon pa (1213-1258) (S.56)

Für mich ist dies eines der erkenntnisreichsten Bücher aus dem Bereich der Meditations- und Bewusstseinsforschung seit langem und es wird auch einen Einfluss auf die Zen-Schulung, die Arbeit mit Koans und die Gespräche in den Dokusans haben, wenn wir es lesen, offen sind, dazuzulernen und uns um ein integratives Verständnis von Tradition und Wissenschaft bemühen.
Üblicherweise wird im Zen während der Meditation gerade nicht über innere Erfahrungen gesprochen oder nachgedacht, sondern es geht primär darum, diese Erfahrungen sprachlos zu vertiefen, um aus der inneren Stille seinen Alltag aktiv handelnd zu gestalten. Darauf weisen die einleitenden Zitate! Metzinger präzisiert denn auch den Begriff der Unaussprechlichkeit folgerichtig dahingehend, dass es sich genau genommen um eine «synchrone sprachliche Unaussprechlichkeit» (S.74) handelt. «Synchron» meint hier, dass wir nicht während des Erlebens reinen Bewusstseins über unsere Erfahrung sprechen oder nachdenken sollten, da dies die Erfahrung selbst zunichtemacht. Um genau dies zu vermeiden, sind Zen-Koans und beispielsweise das Herz-Suttra auf eine Art und Weise konstruiert worden, dass sie jegliches «Reden über» die Zen-Erfahrung ablehnen und uns auf die persönliche innere Übung zurückwerfen und uns ins Schweigen aufs Meditationskissen zurückschicken. Daher spricht man von der sog. «Apophatischen Sprache des Zen». Das griechische Wort «apophasis» besteht aus der Präfix «apo» = weg, hinweg; und dem Verb «phasein» = reden, aussagen – also: «ungesagt machen», «hinwegreden» des «Eigentlichen». Die Sprache vermag lediglich nach der Erfahrung des reinen Bewusstseins auf das Nicht-Sprachliche zu zeigen, wie der Finger, der auf den Mond zeigt. Doch ein sprachlicher Ausdruck ist nie der Mond selbst. Daher können wir sprachlich nie wissen, was der Mond, resp. das reine Bewusstsein wirklich ist! Dies ist auch der Sinn der einleitenden Zitate und folgerichtig auch nicht der Anspruch von Metzingers Buch.

Nichtsdestotrotz gibt es immer wieder Situationen, in denen es wichtig ist, sprachliche «Zeige-Finger» für innere Erfahrungen zu entwerfen, einerseits um das Bewusstsein in der Meditation für das Erleben des Unsagbaren vorzubereiten, daraufhin auszurichten und andererseits, um hinterher das Erlebte in seine persönliche Biographie zu integrieren. In unserem Alltag formt Sprache unbewusst unsere Erwartungen und Erfahrungen, das was wir erkennen können, was wir als wichtig und bedeutsam erachten und was ungesehen bleibt und verdrängt wird. Wir kommen also nicht darum herum, immer wieder von Neuem Sprache für das Nicht-Sprachliche zu finden! Nicht bloss für die Integration spiritueller Erlebnisse in unsere persönliche Biografie, sondern auch für die Integration solcher Erlebnisse und von Meditation in unsere kollektive Biografie, d. h. in unsere Kultur und deren Institutionen ist Sprache zentral! Das, worüber man nicht sprechen kann, das kann auch nicht mitgeteilt werden, insbesondere gegenüber Menschen, die nicht über persönliche innere Meditationserfahrungen verfügen. Für das Nicht-Sprachliche einen differenzierten, intersubjektiv und interkulturell gültigen und relevanten sprachlichen Ausdruck zu finden und damit auf etwas «Wichtiges», «Bedeutsames» für möglicherweise alle Menschen aufmerksam machen zu können, ist die überaus wichtige und wertvolle Leistung dieses Buches.

Reines Bewusstsein

«Prinzipiell könnte [es] den Erfahrungskern bilden, um den herum sich das notwendige kulturelle Wachstum in grossem Masstab vollzieht. Auch wenn das unwahrscheinlich ist, so könnte es doch Einzelnen tatsächlich gelingen…»
Der Elefant und die Blinden, S. 889f.

Es wäre vermessen, ein nahezu 1.000-Seitiges Buch in einem Blogbeitrag adäquat wiedergeben zu wollen. Daher beschränke ich mich auf eine kleine, stichwortartige Auswahl von 26 non-dualen Aspekten des reinen Bewusstseins, die ich teilweise kommentiere. An anderer Stelle habe ich bereits über die Ergebnisse von Metzingers & Gammas Studie des 92-Item-Fragebogens über 12 Dimensionen des reinen Bewusstseins berichtet. In «Der Elefant und die Blinden» werden nun neu die dem Fragebogen angefügten über 500 persönlichen Erfahrungsberichte zum reinen Bewusstsein zitiert, thematisch geordnet und im Licht historischer Zeugnisse und der kognitiven Neurowissenschaften und Philosophie des Bewusstseins interpretiert. Aufgrund dieser Fülle von Aspekten reinen Bewusstseins, wird es mehrere Folgen von Blogbeiträgen geben.

Reines Bewusstsein ist dadurch charakterisiert, dass Sprache, autobiographische Erinnerungen und eine 1. Person-Perspektive, resp. «Ich-» oder «Ego-Perspektive», welche die Aufmerksamkeit auf etwas richtet, nachdenkt, innere Vorstellungen entwickelt und Ziele verfolgt, u. dergl. vollkommen fehlt, abwesend, suspendiert ist. Metzinger bezeichnet reines Bewusstsein daher auch als «0. Person-Perspektive». Er entwickelt neue begriffliche Werkzeuge, um der nicht-sprachlichen Dimension des Erlebnisraums des reinen Bewusstseins näher zu kommen und sie auf eine Art und Weise zu interpretieren, die unserem heutigen, wissenschaftlichen Weltbild entspricht.
Metzinger trifft die grundlegende Unterscheidung zwischen «dualer» und «non-dualer Achtsamkeit» während der Meditation. Da ich darüber bereits in dem Blogbeitrag über die 12. Dimensionen des reinen Bewusstseins geschrieben habe, verzichte ich hier auf eine Wiederholung und thematisiere ausschliesslich non-duale Dimensionen reinen Bewusstseins. Viel dazu findet man auch in Gleichnissen, Gedichten, Suttren des Zens und in Zen-Koans. Doch ich verzichte hier auf eine Bezugnahme darauf, weil auch das den Rahmen dieses Blogbeitrags bei weitem sprengen würde. Stattdessen zitiere ich einige wenige Erlebnisberichte heutiger Meditierender, die in der Studie zu Wort kommen.
Es kann durchaus sein, dass du dich beim Lesen an deine eigenen Erfahrungen erinnert fühlst und auf diese Weise deine eigene Meditationspraxis spielerisch vertiefen kannst! Es kann aber auch sein, dass du dich über die Fülle und Vielfalt der facettenreich beschriebenen Dimensionen reinen Bewusstseins überwältigt fühlst. Dosiere das Lesen auf deine Weise, so dass es sich für dich stimmig und anregend für deine Praxis anfühlt. Es handelt sich ja um eine Beschreibung der «Sahnehäubchen des Lebens» und zu viel Sahne kann bekanntlich auch den Magen verderben.

Non-duale Dimensionen reinen Bewusstseins und eine zeitgemässe Deutung

1. Entspannung, sensationsloses Staunen, existenzielle Leichtigkeit

«Oh mein Gott! Die Anspannung, die ich Jeff nenne, war weg!» (S.47)

«Meine Empfindungen werden weich und subtil. Mein Körper wird von dieser Sanftheit durchflutet, entspannt sich, Muskelverspannungen lösen sich … bis ich ihn kaum noch wahrnehme

und in einen tiefen Raum der Stille eintrete.» (S.48)

Echte Meditationspraxis, so Metzinger, geht weit über alltägliche Erlebnisse physischer oder psychischer Entspannung hinaus und erzeugt eine viel tiefere Form von Leichtigkeit und Gelassenheit, die man als «existenzielle Leichtigkeit» (S.53) bezeichnen könnte. Erfahrungen von Entspannung und Leichtigkeit sind, das zeigen statistische Auswertung des Fragebogens, eng verknüpft mit Erfahrungen von Frieden und tiefer, grenzenloser innerer Stille sowie mit Qualitäten von Sanftheit und einem Gefühl des Ganzseins. Sie sind überdies eng mit Zuständen des Einfachen Daseins im Hier und Jetzt und des reinen Seins verbunden. Die eigene Existenz als solche wird als leicht und vollkommen entspannt erlebt. Innere Konflikte sind abwesend, was auf eine höhere Art der Integration innerer Konflikte hindeutet. Die pure Erfahrung von Lebendigkeit kann damit verbunden sein.
«Sensationsloses Staunen» (S.53) bezieht sich auf eine «stille, undramatische Erfahrung von Ergriffenheit, Verzückung», ein «subtiles Gefühl des Staunens» oder «stiller Ehrfurcht».

2. Frieden

«Gefühl des unendlichen Friedens.» (S.59)

«Ein friedvolles Strömen.» (S.59)

«Ich war mir bewusst, dass ich meditierte, fühlte aber auch einen wunderbaren Frieden und eine vollkommene Ruhe über mich kommen.» (S.59)

«Ich fühle mich im Jetzt! Fühle mich leer, zufrieden, verbunden mit meiner Mitwelt, den Tieren und Pflanzen. Friedlich. Spüre keine Schmerzen, keine Angst, Trauer, Wut, Ekel, Scham oder Schuld. Einfach nur Ruhe und Frieden.» (S.59)

Innerer Frieden besteht in der Abwesenheit jeglicher innerer und äusserer Konflikte im Bewusstsein des Meditierenden. Es gibt keine innere Unruhe, keine geistige Zersplitterung, keine inneren oder äusseren Gegensätze oder Lebenswidersprüche, die das Bewusstsein belasten. Häufig taucht innerer Friede zusammen mit Erlebnissen von «Stille», «Ruhe», «Vollkommenheit», «Tiefe», «Dichte», «Leuchtkraft», «Verbundenheit», «reinem Sein», «Unbegrenztheit», «Durchlässigkeit» und «körperlosem Körpererleben» auf. Metzinger verweist in diesem Zusammenhang auch auf Patanjalis Yogasutra (I:2) aus dem 2. Jh. v.u.Z. und dessen Definition von Yoga: «Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Bewegungen des Bewusstseins». Bereits in der im 5. Jh. v.u.Z. verfasste Katha-Upanishad heisst es: «Wenn die fünf Sinne zusammen mit dem Geist ruhig bleiben und der Intellekt nicht aktiv ist, wird dies als der höchste Zustand bezeichnet.» Reines Bewusstsein zeichnet sich durch Struktur- und Zeitlosigkeit aus und durch geringe Komplexität, weshalb dieses Erlebnis innerer Einfachheit direkt mit innerem Frieden verbunden ist. Der klassische Begriff Samadhi bezeichnet einen friedvollen geistigen Gleichgewichtszustand, frei von jeglichen Gedanken, einen Zustand friedvollen Gleichmuts.

3. Stille

«Ein Raum der zeitlosen, selbstleuchtenden, weitdurchdringenden Stille… Die Stille ist nicht akustisch, der Raum nicht physisch. Die ganze Welt war … eingebettet in diese leuchtende, duftende, süsse Stille. … Köstliche Stille.» (S81)

«Eine Erfahrung des Fallens, erst festhalten wollen an irgendetwas, dann loslassen, mehr und mehr loslassen … tiefe Stille … das Empfinden, ein «spark in the universe» zu sein … irgendwann auch diesen spark loszulassen … tiefe Stille… tiefste Dunkelheit, leuchtend, weitester Raum, raumlos, zeitlos … unfassbare Stille trotz Sprache und Gespräch…» (S.83)

Die Erfahrung von Stille und innerer Ruhe ist ein zentraler Aspekt des reinen Bewusstseins. Meditationsanfänger nehmen sie zunächst häufig als Pause zwischen zwei Gedanken wahr. Je langsamer und subtiler der Atem, desto grösser kann die innere Stille werden. Manchmal erleben Meditierende die innere Stille besonders intensiv in der Atempause zwischen dem Ein- und Ausatmen, wo der Atem für einen Augenblick stillzustehen scheint. Doch diese Stille ist weit mehr als die Abwesenheit äusserer oder innerer Geräusche. Sie ist keine nihilistische, tote Stille. Sie gleicht der Stille eines Sees ohne Wellen, der die Umgebung auf seiner Wasseroberfläche spiegelt. Sie ist der Boden von Lebendigkeit und kann sich tief in den Körper einsenken. Im Laufe der Zeit und der Übung kann innere Stille und Ruhe auch auf dem Marktplatz des Alltags wahrnehmbar durchgehend vorhanden sein kann, wie eine tiefe Meeresströmung.

4. Wachheit & Wissen – tonische Wachheit und epistemische Offenheit

«Unendliche Gleichzeitigkeit und dabei hellwach.» (S.101)

«Ich befinde mich in einem hellwachen Zustand. Ich bin mir des gegenwärtigen Augenblicks besonders stark bewusst. Es ist, als wäre ich ein Wachhund: Alle meine Wahrnehmungen scheinen verstärkt zu sein. Ich bin Bewusstsein, aber ich tue nichts, ausser Geräusche, Gerüche und Empfindungen in meinem Körper wahrzunehmen.
Die Zeit scheint stillzustehen.»
(S. 102)

«Bei Ganzheitserfahrungen während der Meditation … befinde ich mich in einem Zustand der inneren Stille bei gleichzeitig erhöhter Wachheit.» (S. 102)

«Es ist eine Wachheit, für die keine Worte ausreichen. Sie ist keine definierbare Entität, aber gleichzeitig ist sie eine selbsterkennende, bewusste Leere, die klar, deutlich und wach ist.»
Dakpo Tashi Namgyal (c.a. 1513-1587): Die Klärung des natürlichen Zustandes

Bei seiner Analyse kanonischer Texte aus vielen Jahrhunderten und verschiedenen Kulturen stellte Metzinger fest, dass Wachheit und Wissen die bei Weitem bedeutendsten begrifflich gefassten Merkmale reiner Bewusstseinszustände sind.
Die Besonderheit, der in der Meditation erlebten Wachheit ist: sie ist frei von jeder Form von Aktion oder Reaktion auf äussere Ereignisse. Auch fehlt ihr die selektive Aufmerksamkeit. Die Neurowissenschaftler unterscheiden, so Metzinger, verschiedene Arten der Wachheit. «Tonische Wachheit» (tonic alertness) beschreibt eine Form der Wachheit, die unabhängig von äusseren Reizen aufrechterhalten werden kann und nicht durch Signale aus der Aussenwelt getriggert wird. Die subjektive Erfahrung des puren, nackten Wachseins – die man insbesondere auch am Morgen für Momente beim Erwachen zwischen Traum und Wachbewusstsein erleben kann – hat keine Struktur. Wachheit als solche ist ein sehr natürlicher und einfacher Zustand, weil er auf angeborenen Fähigkeiten beruht. Da sie auf neuronale Mechanismen zurückführbar ist, ist sie ein gutes Beispiel für kulturelle Invarianz. Menschen aller Kulturen erleben sie. Denn tonische Wachheit basiert auf der Erfahrung des Schlaf-Wachrhythmus. Die Gehirnmechanismen, die beim Schlaf-Wachrhythmus aktiviert werden, existieren überdies nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Tieren.
Der Gegensatz dazu ist «phasische Wachheit» (phasic alertness). Sie wird durch plötzliche Ereignisse, z. B. ein lautes Geräusch aber auch durch unerwartete Veränderungen der Helligkeit und des Kontrasts ausgelöst. Die Reizunabhängigkeit kennzeichnet die in der Meditation erlebbare tonische Wachheit.

Diese Wachheit kennzeichnet sich darüber hinaus durch eine Offenheit für die Welt. Metzinger bezeichnet diese Offenheit als «epistemische Offenheit». Episteme (altgriechisch: ἐπιστήμη epistḗmē) ist ein Begriff der griechischen Philosophie und bedeutet „Erkenntnis“, „Wissen“, „Fähigkeit“ oder „Wissenschaft“. Metzinger deutet die epistemische Offenheit des reinen Bewusstseins als eine Repräsentation der Möglichkeit, des Potentials, etwas Wissen zu können, konkrete inhaltliche Erkenntnisse zu haben. Das, was offen ist, ist ein Raum unerschöpflicher Möglichkeiten. Es handelt sich dabei um ein nicht-begriffliches Wissen um diese Offenheit («Wachheit ist da.») Im reinen Bewusstsein gibt es kein Ego, keine erste Person Perspektive, die über dieses Wissen verfügt. Es ist vielmehr ein nicht-begriffliches Wissen ohne einen Wissenden. Der Begriff «Epistemizität» bezieht sich auf die bewusst erlebte Qualität dieses Wissens – die, so zeigt seine Analyse, auch ohne Subjekt-Objekt-Differenz auftreten kann. Epistemizität kann in der Meditation folglich als reines Wissen oder als eine Form des Selbsterlebens auftreten, bei welcher die meditierende Person mit der inneren Natur «des Wissens selbst» eins wird.
Reines Bewusstsein kennzeichnet sich durch eine «zero» Person Perspektive (0. PP) – sie besitzt keine willentliche Aufmerksamkeitslenkung, keine zielgerichtete Absicht, keine Orientierung im physikalischen Raum und der physikalisch messbaren Zeit und keine erste Person Perspektive (1. PP). Beim reinen Bewusstsein handelt es sich, so Metzinger, um  eine «Minimale phänomenale Erfahrung (MPE)» (S.113). Eine Minimale phänomenale Erfahrung ist «eine einfache und stille Weise, in der ein biologischer Organismus seine eigene tonische Wachheit erkennen und erleben kann, jedoch ohne Gedanken und Begriffe, nicht-egoisch und ohne jegliche Erste-Person-Perspektive» (S 113).  Das reine Bewusstsein enthält eine Art «epistemisches Ur-Gefühl», eine Vorahnung, dass Wahrnehmungszustände jetzt sehr bald eintreten werden – eine «Offenheit für eine Welt», eine Vorahnung, sich demnächst im Raum und in der Zeit orientieren zu können, eine «Vorahnung auf ein Selbst als einer 1. Person Perspektive. (S.113f.), welche Absichten haben und sich auf Ziele ausrichten kann. Damit verbunden ist die Erfahrung der puren Lebendigkeit und spontanen Präsenz, die grundlegend, klar und frei von jeglichen Hindernissen sind.
Der Begriff der epistemischen Offenheit bietet sich an als moderne Neuinterpretation des alten buddhistischen Begriffs der Leerheit an.
Metzinger spricht in Bezug auf epistemische Offenheit auch von einem «offenen epistemischen Raum», dem «Raum des Wissens». (S.125) «Epistemische Offenheit ist die Offenheit eines `lichten`, also nicht durch Hindernisse verstellten epistemischen Raums.» (S. 125) Dieser Raum ist unbegrenzt, ungetrübt und völlig offen. Die Raummetapher ist schon alt und findet sich nach Metzinger an zahlreichen Stellen der kontemplativen Literatur. Als Beispiels zitiert er Tulu Urgyen Rinpoche (1920-1996):

«So wie der Raum alles durchdringt, so durchdringt auch das Gewahrsein alles. Wie der Raum, so ist auch rig pa allumfassend, nichts ist ausserhalb von ihm. Genau wie die Welt und die Wesen vom Raum durchdrungen sind, so durchdringt rig pa den Geist aller Wesen.»
Vajra-Speech

5. Klarheit

«Klares Wasser … grenzenlose Weite und Glanz» (S.123)

«Klares, reines Bewusstsein, inhaltslos, leer, still, ruhig, gewahr, endlose Tiefe – meist in den Morgenstunden…» (124)

«Ich kann reine Klarheit durch das Bewusstsein der Präsenz des Seins erfahren, ohne visuelle Wahrnehmung.» (124)

«Klarheit, alles ist genauso, wie es ist. Ich brauche nichts zu verändern. Der Zustand bildet den Hintergrund zu allem Erlebbaren.» (S.124)

Klarheit ist eng verbunden mit epistemischer Offenheit, aber auch mit Erfahrungen von Leichtigkeit, Weite, Subtilität und Tiefe, mit anhaltenden Zuständen des Gleichgewichts, dem Gefühl wacher Präsenz, einer ruhigen, zeitlosen Form der Stille, Sinnesschärfe oder einer Form der Wahrnehmung ohne Zentrum und Grenzen.
Die Klarheit des leeren Erkennens scheint etwas Grundlegendes zu sein. In der Meditation kann diese Klarheit als solche erkannt werden. In der Meditation gibt es sogar ein «überklares Bewusstsein», es ist der «klarste und hellste Bewusstseinszustand, den wir kennen» (S. 134).
Klarheit ist nicht dasselbe wie geistige Stille! In den komtemplativen Traditionen ist seit langem bekannt, so Metzinger, dass es möglich ist, bewusst zu sein, keine Gedanken zu haben ohne Klarheit zu besitzen. In solchen Fällen sind die Wahrnehmungsprozesse auf niedriger Ebene und die sensomotorische Integration auf Autopilot – und dabei fehlt die Klarheit. Wir können also epistemisch offen sein, ohne diese Offenheit wirklich zu erkennen! Klarheit scheint ein zusätzliches Element zu benötigen, eine nicht-egoische Form der Selbstwahrnehmung. Hier besteht eine nicht-begriffliche, nicht-intellektuelle Form der Einsicht.

6. Stimmigkeit, Harmonie

«Meine Erfahrung was, alles als rein zu sehen und zu fühlen, alles in Harmonie, mich und die Welt, die Farben, die Klänge.» (S.156)

«Ich hatte das Gefühl, dass ich `rund`bin, keine Probleme, keine Fragen, keine Zweifel. Es ist alles okay, wie es ist, ohne Wenn und Aber – das ist ein abolut erstrebenswerter Zustand, nicht nur in der Meditation, sondern möglichst tagtäglich.» (S.157)

«Es ist alles stimmig, genau richtig, so, dass man vieles gar nicht bewusst (einzeln) wahrnimmt… selbstverständlich, vertraut, klar, in Ordnung (auch wenn ich `Probleme` bewusst betrachte)… Es ist wie ein Ja-Sagen, Verstehen, Unterschwellig -Mitsummen, auch mit den Aspekten, die im Alltagsleben verurteilt oder als Schmerz empfunden werden.» (S.156f.)

«Es fühlte sich an, lösste sich mein Körper auf, meine Grenzen, alles dehnte sich aus, und ich vergesse die Zeit. Es fühlt sich gross und stimmig an, und ich werde demütig vor der Grösse und Stimmigkeit und Freiheit.» (S.157)

Ein weiterer Aspekt des reinen Bewusstseins ist eine globale Ganzheit, Stimmigkeit, Harmonie, die erlebt wird. Der Gesamtzustand des bewussten Erlebens ist in sich stimmig, weil alle seine Teile sich auf eine widerspruchsfreie Weise gegenseitig ergänzen. Aus dem Alltag kennen wir die Stimmigkeit oder Harmonie eines Liedes, von Szenen, Argumenten, logischen Systemen, mathematischen Formen, Geschichten und musikalischen Kompositionen. Zum Erleben dieser Stimmigkeit und Harmonie im reinen Bewusstsein gehört auch die Freiheit von inneren Konflikten, Ganzheit und existenzielle Leichtigkeit. Diese Erfahrung von Harmonie tritt auch oft zusammen auf mit der Erfahrung von grenzenlosem Raum und körperloser, entgrenzter Körpererfahrung und epistemischer Offenheit.

Diese Erfahrung der Harmonie und Stimmigkeit kann mit einem sehr starken Gefühl von Gewissheit gekennzeichnet sein, schreibt Metzinger, einer nicht-begrifflichen Einsicht und eines verkörperten intuitiven Wissens. Es scheint, folgert er, als ob es sich hierbei um ein angeborenes subjektives Gefühl der Gewissheit handelt, das sich als Stimmigkeit und Harmonie kundtut.
Ich möchte ergänzen, dass Erfahrungen im reinen Bewusstsein auch mit einem hohen Gefühl von Realität einhergehen, das man vom Urteil darüber, ob etwas real ist, unterscheiden muss. Dieses erhöhte Realitätsgefühl geht zudem einher mit dem Erlebnis erhöhter Kontrastwahrnehmung in allen Sinnesbereichen: im Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, der Körperempfindung sowie im Denken. So sind beispielsweise die Farben intensiver und die Abschattungen und Kontraste ebenso. Dies verstärkt sich durch einen erhöhten Fokus der Aufmerksamkeit, die sich ganz exakt auf etwas richten kann, wie ein Vergrösserungsglas oder ein Mikroskop, mittels welchem sich Dinge genau fokussieren und untersuchen lassen.

7. Nicht-Identifikation

«Identifikation wie Narben oder Kondensstreifen, die entstehen und wieder verschwinden.» (S.167)

«Ich habe dieses Gewahrsein als einen distinkten Bewusstseinszustand erlebt, der von alleine kam und nach einer Weile… wieder verging. Dabei habe ich mich als vollkommen losgelöst von meinen Gedanken und Empfindungen wahrgenommen. Diese haben immer noch existiert, und ich habe sie immer noch wahrgenommen, war aber nicht mehr mit ihnen identifiziert. Vielmehr war ich mit einem Gewahrsein identifiziert, das diese Gedanken und Empfindungen wahrgenommen hat, ohne selbst etwas zu empfinden. Insofern würde ich es als rein beschreiben.» (S.174)

«Es war reine Freude ohne Anhaftung.» (S.175)

Metzinger diskutiert in diesem Kapitel  im Zusammenhang mit Nicht-Identifikation 6 verschiedene Definitionen von «Reinheit», auf die ich hier nicht eingehen werde. U. a. zitiert er Padmasambhava, der um 767 den tantrischen Buddhismus nach Tibet brachte. Er sagte: Genauso, wie ein leeres Haus durch keinen Dieb gefährdet werden kann, weil es nichts gibt, was er ergreifen und festhalten könnte, so können auch Gedanken, deren Leerheit erkannt wird, einem leeren Geist in keiner Weise schaden. Genau wie der Dieb, der das Haus ganz von selbst wieder verlässt, werden sie sich selbst befreien und in Stille auflösen. In unserer Kultur wird uns nicht beigebracht, wirklich aufmerksam in die Quelle unserer Gedanken zu schauen. Vielleicht ist es möglich, dass die Gedanken aus der selbsterkennenden Achtsamkeit selbst gemacht sind. Padmasambava nannte den Bewusstseinszustand, der sich aus dieser subtilen und vollständig nicht-intellektuellen Einsicht ergibt, den Zustand, in dem man «die gefährliche und enge Schlucht der sich bewegenden Gedanken überquert hat». (S.173)

In traditionell buddhistischen Begriffen sprechen wir von Nicht-Identifikation, wenn Durst (Pali:  tanhā), Gier (Pali: lobha), Ergreifen und Anhaften (Pali: upādāna) im Bewusstsein nicht mehr vorhanden sind. Klassischerweise ist Meditation eine Praxis der Desidentifikation oder Desimmersion, indem mit der Rückkehr der Aufmerksamkeit aus Gedanken, Geschichten, Absichten und Willensregungen zur Meditationsübung, z. B. dem Atem, die darin eingewobenen Gefühlen ihre “emotionale Energie” entzogen wird, die unser Bewusstsein und unsere Aufmerksamkeit anzieht, besetzt hält. Dabei können die Inhalte immer noch bewusst sein, doch sind sie nicht Teil einer egoischen Identifikation, d.h. es gibt keine 1. Person Perspektive. Das Bewusstsein ruht in einer 0. Person Perspektive ohne «Ich». Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen können also existieren, ohne dass sie einem Ich oder einem Denker oder Wahrnehmer zugesprochen werden. Das Ichgefühl bildet das Ergebnis einer Kontraktion des natürlichen, offenen, globalen Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsfeldes.

Fortsetzung folgt im nächsten Blogbeitrag …..

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