Autor: Peter Widmer

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Als ich 1995 unverhofft meinen ersten luziden Traum am Ende eines dreimonatigen Zen-Retreats hatte, war mir auf Anhieb klar, dass die durch die intensive Meditationszeit gewonnene Wachheit mich nachts förmlich ins Klarträumen buxiert hat.
Luzide Träume und (Zen-)Meditationszustände sind einander sehr verwandt. Meditations- und Traumforschungen zeigen, welche Ähnlichkeiten bestehen und wie bestimmte Meditationspraktiken das luzide Träumen fördern können. (Eine Einführung zum luziden Träumen hier unter diesem Link) Viele luzid Träumende meditieren. Und im Tibetischen Buddhismus und der Bön Kultur gibt es Traditionen, die das luzide Träumen kultiviert und in die tibetische Weltanschauung integriert haben.

Ähnlichkeiten zwischen (Zen-)Meditation und luziden Träumen – und neurophysiologische Korrelate

Paradoxe Zustände

(Zen-)Meditation und luzide Träume sind beides paradoxe Zustände: tiefe Entspannung des Körpers einerseits bei gleichzeitiger Bewusstheitsklarheit und –wachheit andererseits, die einhergeht mit der Fähigkeit, sich desidentifizieren und seine Aufmerksamkeit bewusst lenken zu können.

Tiefe Entspannung und Auflösung des Körper-Ichs

Sowohl im Schlaf als auch während der Meditation sind Atmung, Atem-, Herzfrequenz und der Stoffwechsel verlangsamt. Das parasympathische Nervensystem wird durch Meditation aktiviert, weshalb Meditation die Schlafqualität verbessert (siehe dazu meinen Blog-Beitrag: Meditation verbessert den Schlaf).
Im Schlaf befindet sich der Körper in der sog. Schlafparalyse, d.h. dass der Körper vom Bewusstsein abgekoppelt ist, so dass Trauminhalte nicht in aktive Körperbewegungen umgesetzt werden. Im Traum und im Klartraum besteht daher keine Verbindung zwischen dem geträumten und dem realen Körper. Die Körperparalyse wird im sog. Pons (der Brücke) aktiviert. Schädigungen des Pons können eine Aufhebung der Schlafparalyse zur Folge haben. Weshalb Menschen, die eine solche Schädigung haben, Ihre Träume körperlich ausagieren und dabei sich selbst und ihre NebenschläferInnen gefährden können.
Wichtig bei der Zen-Meditation ist das Ruhighalten des Körpers. Ähnlich wie bei der Schlafparalyse erleben so Meditierende, wie sich das Körpergefühl auflösen kann. Das Nichtbewegen des Körpers hat zur Folge, dass keine inneren Wahrnehmungen – keine sog. Propriozeptionen – in die bewusste Wahrnehmung gelangen. Unsere inneren Wahrnehmungen von Körperbewegungen machen uns darauf aufmerksam, dass wir einen Körper haben. Unser Körperschema wird auf diese Weise durch Propriozeptionen gebildet. Wenn wir uns bei der Zen-Meditation also nicht bewegen, wird auch das Körperschema, d. h. unser Körper-Ich nicht aktiviert, welches womöglich den Nukleus unseres Ich-Gefühls ausmacht. Daher berichten mir Zen-Meditierende in Einzelgesprächen sehr häufig davon, dass sich ihr Körper auflöst oder „wie nicht existiert“ oder „leicht ist, wie eine Feder“ und ähnliches mehr.

Erhöhtes Realitätsgefühl

Klarträume/luzide Träume – ich verwende hier beide Begriffe synonym – unterscheiden sich beträchtlich von normalen Träumen/Trübträumen. Luzide Träume sind sehr real, oft viel realer als die erlebbare Wachrealität. Je luzider man in ihnen ist, desto realer werden sie. Oft werden luzide Träume so intensiv, dass die erlebten Dinge, Landschaften, Traumfiguren und andere Elemente von innen heraus zu leuchten beginnen. Allein dieses innere Leuchten macht noch nicht den luziden Traum aus. Solche Phänomene kann man auch in normalen, nicht luziden Träumen erleben. Auch während der Meditation kann ein inneres Leuchten erlebt werden.
Doch luzide Träume haben einen erhöhten Grad von Realität. Dasselbe gilt für das Erleben in meditativen Versenkungs-/Samadhizuständen.
Der Meditationsforscher Arthur Deikman unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem „Gefühl von Realität“ und dem „Urteil darüber, ob etwas real ist“.[1. Siehe: Deikman, Arthur J.: Deautomatization and the Mystic Experience, in: Psychiatry 1966, No. 29, S.324-338. Im Folgenden zitiert aus: Woods, Richard (Hg.): Understanding Mysticism, London 1981, S. 252ff.] Das Gefühl von Realität ist normalerweise mit dem Urteil darüber, ob etwas real ist verbunden. Doch das Gefühl von Realität kann als eigenständige Funktion des Bewusstseins aufgefasst werden, die sich auf alle möglichen Inhalte des Bewusstseins übertragen kann: auf Sinneswahrnehmungen (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, körperliches Empfinden), Emotionen, Phantasien, innere Bilder, Gedanken, Stimmungen, Atmosphären und Trauminhalte.[2. Daher ist fraglich, ob man hier mit Deikeman überhaupt von einem „Gefühl“ sprechen soll und nicht vielmehr von „Erfahrungsintensität“ oder „Realitätsgraden des Erlebens“.] Es kann sich auf all diese Bereiche übertragen, verdichten, intensivieren, aber auch reduzieren. Soldaten im Krieg beispielsweise können in einer Gefechtssituation alles als viel weniger real erleben, wie hinter einem Schleier, Nebel oder Vorhang. Die Reduktion des Realitätsgefühls wirkt hier als Schutz, um funktionieren zu können und die schreckliche Realität, beispielsweise sterbende Kameraden neben einem, nicht voll mitbekommen zu müssen. Doch ebenso, wie sich das Realitätsgefühl in traumatischen, belastenden Situationen vermindern kann, kann es sich auch verdichten, intensivieren. Dies geschieht u. a. in der Meditation und in Klarträumen. Während Meditationsretreats riecht das Essen plötzlich intensivst und schmeckt wunderbar. Die Farben der Blumen bekommen eine andere Anmutung, werden als realer erlebt – ebenso die Träume während eines Retreats, auch die Gedanken und Fantasien, alle Inhalte des Bewusstseins können viel realer erlebt werden. Die Kontraste und Nuancen nehmen in allen Bereichen des Erlebens zu.

Erhöhte Bewusstseinsklarheit, –wachheit und die Qualität von Neuheit

Zusammen mit dem erhöhten Realitätsgefühl entsteht in der Meditation mit zunehmender Desidentifikation von Wandergedanken primärer Teilpersönlichkeiten eine Art Bewusstseinsklarheit. Mit den zunehmenden Momenten innerer Stille verbindet sich eine besondere Form von Wachheit und innerer Klarheit, in der die Dinge und vor allem zunächst die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, ganz prägnant und auf eine neue, intensive Art und Weise erlebt werden. Als ob man die Welt zum ersten Mal hört, sieht, riecht, schmeckt und empfindet. Dieselbe Qualität von Erleben kann auch in Klarträumen erfahren werden, mit dem Unterschied, dass alle Dinge des Erlebens geträumt sind.

Vier Phasen konzentrativer Meditation und deren neuronale Korrelate

Die Lenkung der Aufmerksamkeit ist die zentrale Meditationsübung bei allen konzentrativen Meditationspraktiken (siehe dazu hier), z. B. im Rinzai-Zen, bei der Fokussierung auf ein Mantra oder der Rückkehr zum Atem. Die Aufmerksamkeit wird dabei immer wieder von neuem aus jeglicher Zerstreutheit auf das Meditationsobjekt zurückgeführt.
Hasenkamp und seine Mitarbeitenden untersuchten Meditierende im Tomographen, die per Knopfdruck signalisierten, in welchem inneren Zustand sie sich gerade befinden. Die Forscher unterschieden bei diesem Prozess vier Phasen innerer Zustände und konnten hierzu vier verschiedene beteiligte neuronale Netzwerke unterscheiden[3. Siehe dazu:  Neuroimage, 59(1), (2012), 750–60.].

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Vier Bewusstseinszustände und deren neuronale Netzwerke

1. Wandernde Gedanken und Phantasien – Aktivierung des Default Mode Networks. (Siehe dazu auch meinen Blog: Das Glück des Augenblicks wahrnehmen)
2. Bewusstseinsklarheit darüber, in Gedanken verloren zu sein – Aktivierung des Salienz-Netzwerks (= “Salient Network”, in der bilateralen anterioren Insula und im dorsolateralen anterioren cingularen Kortex)
3. Refokussierung der Aufmerksamkeit auf das Meditationsobjekt (z.B. den Atem) – Aktivierung des Frontoparietalen exekutiven Netzwerks (des rechten dorsolateralen präfrontalen Kortex und der laterial inferior Parietalregion)
4. Halten der Aufmerksamkeit auf dem Meditationsobjekt – Aktivierung des rechten dorsolateralen präfrontalen Kortex.

Diese Gehirnbereiche und neuronalen Netzwerke werden also während fokussierenden Meditationspraktiken aktiviert.

Neuronale Netzwerke des Träumens und Klarträumens im Vergleich zur Meditation

Träumen als intensive Aktivierung des Default Mode Networks

Während wir im Alltag und auch während der Meditation in wandernden Phantasien und Gedanken verloren sein können, sind Träumende nachts im Traumgeschehen verloren.
Das sog. Default Mode Network ist, laut Domhoff, nicht nur während wandernden Gedanken und Phantasien, sondern auch während des Einschlafens und Aufwachens in sog. hynagogen und hypnopompen Zuständen und vor allem während des REM-Traumschlafs viel aktiver als am Tag! [4. Siehe: G. William Domhoff: Dreaming and the default network: A review, synthesis, and counterintuitive research proposal. Das Default mode Network ist hoch komplex und überlappt sich mit dem sog. Netzwerk für soziale Kognition, auch „Extended Social Affective Network“ genannt und mit dem sog. „Mentalizing Network“.] Nächtliche Träume gehen einher, so Domhoff, mit einer verstärkten, intensivierten Aktivierung des Default Mode Networks.

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Quelle: Domhoff, 19.

Das Netzwerk luziden Träumens

Wissenschaftler der Max-Planck-Institute Leipzig, München und der Charité untersuchten luzide Träumer im Magnet-Resonanz-Tomografen (MRT).[5. Siehe: Dresler M; Wehrle R; Spoormaker VI; Koch SP; Holsboer F; Steiger A; Obrig H; Sämann PG; Czisch M.: Neural correlates of dream lucidity obtained from contrasting lucid versus non-lucid REM sleep: a combined EEG/fMRI case study,  in: SLEEP 2012;35(7):1017–1020.] Sie konnten zeigen, dass beim Erlangen dieses luziden Bewusstseins während des nächtlichen Träumens die Aktivierung eines spezifischen kortikalen Netzwerkes nachweisbar wird.

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Quelle: Dresler (2012), 1019.

Dieses Netzwerk besteht insbesondere aus

Der dorsolaterale präfrontale Kortex als auch der Precunius sind beim normalen REM-Traumschlaf sehr stark vermindert aktiv. Sie werden erst im Übergang zum luziden Träumen wirklich stark aktiv.
Sowohl bei der Refokussierung und dem Halten der Aufmerksamkeit während der Meditation, als auch im Übergang vom normalen zum luziden Träumen ist also der rechte dorsolaterale präfrontale Kortex erhöht aktiv! Diese Gehirnregion ist insbesondere assoziiert mit höheren kognitiven und metakognitiven Leistungen, wie beispielsweise dem einnehmen können einer Aussenperspektive auf sich selbst und die Umstände, in welchen man sich befindet (Perspektive der 3. Person). Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein zentraler Grund, weshalb konzentrative Meditationspraktiken das luzide Träumen fördern.
Während des luziden Träumens ist jedoch der präfrontale Kortex in Verbindung mit dem Parietallappen, der assoziiert ist mit dem episodischen Gedächtnis, sowie mit vermehrter Aktivität in der frontopolaren Region, die insbesondere assoziiert ist mit der Verarbeitung und Bewertung interner Zustände.
In der Meditation hingegen spielt weder das Arbeitsgedächtnis, noch die Bewertung innerer Zustände eine Rolle. Ganz im Gegenteil. Man bemüht sich vielmehr darum, sich von Gedächtnisinhalten und der Bewertung innerer Zustände zu desidentifizieren. Daher ist die Verbesserung der Traumerinnerung und die Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Wachrealität bei einem meditativen Zugang zum luziden Träumen wichtig.
In einer Reihe von Meditationsstudien konnte nachgewiesen werden, dass der Precunius nicht nur beim luziden Träumen, sondern auch bei der Meditation erhöht aktiv ist und sich durch Meditation verdickt.[6. Siehe dazu:  Florian Kurth, Eileen Luders, Brian Wu, and David S. Black: Brain Gray Matter Changes Associated with Mindfulness Meditation in Older Adults: An Exploratory Pilot Study using Voxel-based Morphometry, in: Neuro. 2014 ; 1(1): 23–26. doi:10.17140/NOJ-1-106.] Der Precunius ist assoziiert mit

Desidentifikation von den eigenen Anteilen in der Meditation und im luziden Traum

Sowohl in der fokussierenden Meditation, als auch beim luziden Träumen findet eine Desidentifikation von Inhalten des Default Mode Network statt. Das passive Angezogen-sein und Mitgenommen-werden von den emotional aufgeladenen Bewusstseinsinhalten verschiedenster Teilpersönlichkeiten und deren Interaktionen tritt gradweise in den Hintergrund. Im Vordergrund des Bewusstseins entsteht eine Bewusstheit, Wachheit, zusammen mit der Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit bewusst lenken, bewusst entscheiden und handeln zu können. Es entstehen zwei SELBST-Qualitäten:

Diese beiden Qualitäten des SELBST, der reine Beobachter, resp. Zeugenbewusstsein und das daraus – aus dem unvoreingenommenen jeweiligen Augenblick handelnde SELBST, entwickelt sowohl der Meditierende als auch der luzid Träumende. Auch in der Inneren Friedenskonferenz sind dies Schlüsselkompetenzen.

Langzeit Meditierende haben im Traumschlaf mehr REMA

Die Dynamik der Rapid Eye Movements, die sog. REMA (Rapid Eye Movement Activity) ist bei Langzeitmeditierenden erhöht. D. h. die REM-Dichte ist grösser (insbesondere die sog. „burst“ und „non burst“ Dynamik ist erhöht und länger).

Forschungen zeigen, dass Gammaaktivität im Orbitofrontalen und medialen präfrontalen Kortex mit erhöhter REMA verbunden ist und die Forscher nehmen an, dass dies Hinweise für erhöhte neuroplastisch verändernde Ereignisse sind.

Gammaaktivität im orbitofrontalen und medialen präfrontalen Kortex sowie erhöhte REMA sind auch Hinweise auf luzide Träume.

Gamma-Aktivität im REM-Traumschlaf von Langzeitmeditierenden

Aus der Traumforschung ist bekannt, dass luzides Träumen einhergeht mit Gammaaktivität (25-40 Hz) im Gehirn. Bei Schlafbeginn werden vor allem Thetawellen (5-8Hz) gemessen, im Tiefschlaf Deltawellen (4-5Hz) und während des REM-Traumschlafs Betafrequenzen (13-25Hz). Je schneller das Neuronenfeuer, desto mehr Gehirnaktivität. Die schnelle Gammaaktivität geht einher mit gelenkter und erhöhter Aufmerksamkeit, abstraktem Denken und der Fähigkeit, sich selbst und die Umstände, in denen man sich befindet, kritisch zu reflektieren.
Ursula Voss und ihrem Team ist es sogar gelungen, durch transkranielle Wechselstromstimulation mit 25 und 40 Hz, von aussen mittels Elektroden, die in Bereichen des orbitofrontalenund medialen präfrontalen Kortex befestigt worden waren, luzides Bewusstsein in träumende Probanden „einzuschleusen“. [9. Siehe: Ursula Voss, Romain Holzmann, Allan Hobson, Walter Paulus, Judith Koppehele-Gossel, Ansgar Klimke & Michael A Nitsche: Induction of self awareness in dreams through frontal low current stimulation of gamma activity, in: Nature Neuroscience 17, 810–812 (2014) doi:10.1038/nn.3719]

Auch bei Langzeitmeditierenden verschiedenster Meditationsrichungen wurde erhöhte Gammaaktivität festgestellt. Sowohl während der Meditation, als auch im REM-Traumschlaf!

Acetylcholin, REM-Schlaf und luzides Träumen

Während in der ersten Nachthälfte im Gehirn mehr Serotonin produziert wird, was mit Tiefschlaf assoziiert ist, erhöhen sich während der zweiten Nachthälfte die Acetylcholinwerte, die mit vermehrtem REM-Traumschlaf einhergehen. REM-Traumschlaf geht einher mit Neuronenfeuer im Pons (der Brücke) im ältesten Gehirnbereich, dem Stammhirn. Paralell dazu wird dort Acetylcholin ausgeschüttet. Acetylcholinrezeptoren befinden sich jedoch auch im präfrontalen Kortex. Während also im Pons Acetylcholin ausgeschüttet wird, und das Träumen beginnt, erhöht das Acetylcholin im präfrontalen Kortex die Wachheit und verbessert die kognitiven Fähigkeiten. Daher werden Medikamente, welche die Acetylcholinspegel erhöhen seit vielen Jahren in der Alzheimertherapie verwendet.

(c) Peter Widmer – zen-integral.com

 

 

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