In Asiatischen Kulturen ist das Gleichnis vom Elefant und den Blinden weit verbreitet. Es findet sich im Buddhismus, im Jainismus, im Sufismus und unzähligen hinduistischen Strömungen.
Hier eine dramatische wirkende japanische Darstellung – ein Druck von Hanabusa Itchō von 1888, auf dem Mönche den Elefanten untersuchen.

«Die Menschheit hat viele… Meditationstechniken entwickelt. Es sind Strategien des inneren Handelns; immer wieder getestete Modelle genau derjenigen geistigen Handlungen, die zu einem anstrengungslosen Zustand des geistigen `Nicht-Handelns` führen»… Einige Blinde berühren den Elefanten vielleicht mit der rechten Hand, andere mit der linken. Manche benutzen beide Hände gleichzeitig, manche wechseln ab. Manche streichen nur mit den Fingerspitzen oder auch nur mit der Spitze eines einzelnen Fingers über die Haut des Elefanten, andere lassen die ganze Handfläche sanft über ihn gleiten oder legen sogar ihre Wange an seine Flanke. Einige Blinde entdecken vielleicht zufällig, dass man auch mit den Füssen etwas berühren kann, und beginnen einen der vier Unterschenkeln des Elefanten genauer zu erkunden.» (S. 286f.)

Metzingers Studie enthüllt, dass viele Studienteilnehmenden in verschiedenen Praktiken beheimatet sind, wie Vipassana, Minduflnes Based Stress Reduction (MBSR), Zen, Transzendentale Meditation (TM), Mahamudra Dzogchen, u. a. Dies spiegelt unseren Zeitgeist. Heute sind alle Traditionen über Bücher, Internet, Kursangebote, Apps, Zeitschriften u. v. m. allen Menschen zugänglich.

11. Der natürlichste Zustand

«Das Wahre, so wie ein Aufwachen in das richtige Leben.» (S.259)

«… Ich habe manchmal das Gefühl, dass alles natürlicher ist als sonst. Das bedeutet, dass ich mich mit der Welt und der Umwelt um uns herum vertrauter fühle.» (S.259)

«In der Meditation bin ich oft in einem Zustand der stillen Ausgewogenheit, wach und ganz bei mir selbst. Es fühlt sich richtig, natürlich, normal, gut, vollständig an. Mir fehlt dort/hier nichts, eigentlich würde ich gerne immer dort (in diesem Zustand) sein…» (S.260)

Natürlichkeit, Gewöhnlichkeit und Einfachheit sind, schreibt Metzinger, weitverbreitete phänomenologische Themen in den Erfahrungsberichten. Man findet sie auch in der kanonischen kontemplativen Literatur der vergangenen Jahrhunderte. Reines Bewusstsein wird als völlig unspektakulär erlebt. Im tibetischen Buddhismus spricht man vom «natürlichen Zustand» (Tibetisch: rang bzhin gnas rigs). Es gibt, führt Metzinger aus, eine «profunde und doch subtile Qualität der Tiefgründigkeit» (S.259) in dieser Einfachheit, so als ob diese Einfachheit «noch natürlicher und realer wäre als das, was wir üblicherweise für einen natürlichen Zustand halten». Die Erfahrung reinen Bewusstseins ist eine profunde Erfahrung, im Sinne von «unermesslich», «bodenlos».

«Jenseits von tiefgründig, mehr als tiefgründig, aber völlig gewöhnlich…. Aussergewöhnlich gewöhnlich.» (S.261)

«Die Erfahrung selbst war gleichzeitig extrem tiefgründig und doch unglaublich alltäglich…» (S.261)

12. Nach Hause kommen

«Die Erfahrung ist, als käme man nach Hause … voll, vollständig, nichts, wonach man greifen müsste. Wie ein grosses Lächeln.» (S. 269)

«Reines Gewahrsein ist die Realisation, nach ewigem Suchen endlich nach Hause gefunden zu haben…» (S. 270)

«… Ich weiss nur, dass es sich jedes Mal so anfühlt, wie heimzukommen oder wie sich an etwas zu erinnern, das immer da und nur vergessen war…» (S. 270)

Die Erfahrungen des nach Hause Kommens haben sowohl eine emotionale Komponente, als auch eine epistemische, erkenntnismässige, so Metzinger. Oft sprechen Meditierende von Gefühlen des Wohlbefindens, der Sicherheit oder des Geborgenseins. Das reine Bewusstsein ist, wie es Buddhistisch heisst, der eigentliche Ort der «Zufluchtnahme». Allerdings handelt es sich um mehr als ein blosses Gefühl, es ist ein «globaler Seinszustand». Damit verbunden ist oft die epistemische Qualität der «Einsicht», ein «Wiedererkennen» oder «Sich-Erinnern» an etwas, was «immer schon da war, aber vergessen wurde», etwas «zutiefst Vertrautes». Im vielen Traditionen wird gesprochen vom «Erkennen der eigenen wahren Natur». Es ist das «Wiedererkennen des unkonstrierten Grundzustandes» (S. 274) schreibt Metzinger und zitiert Douglas Harding:

«Das erste Merkmal ist, dass es keine Grenzen hat, keinen Zaun um sich herum, keine Kanten; es ist absolut unbegrenzt in alle Richtungen. Das zweite Merkmal ist, dass es absolut klar, rein und frei von Verunreinigungen is. Es ist absolut einfach, vollkommen durchsichtig, leer von allem ausser sich selbst, leer sogar von sich selbst, klarer als Glas, wolkenlos, ein unendlicher Himmel. Das dritte Merkmal ist, dass es auch gefüllt von der Welt ist. Weil es leer ist, ist es voll – gefüllt mit der Szene, was immer die Szene gerade ist, absolut vereint mit ihr. Das vierte Merkmal ist, dass es wach ist, es ist gewahr, es ist bewusst. Und das fünfte Merkmal ist, dass es genau da ist, wo Du bist.» (S. 274)

Das reine Bewusstsein, schreibt Metzinger ist vielleicht «die Verarbeitungsebene, auf der das egoische Selbstmodell die endgültige Talsohle erreicht, den tiefsten Punkt, an dem der bewusste Organismus sich selbst wirklich auf den Grund geht…» (S. 274)… einem emotionalen Grundzustand in der frühen Kindheit entsprechend (S. 275)… ein «Hintergrundsummen der tonischen Wachheit» (S. 275f.); eine «Ur-Empfindung, die dem Organismus ständig seine eigene epistemische Offenheit signalisiert» (S. 276).

13. Es gibt nichts mehr zu tun

«Wie ein zufriedener Stein.» (S. 281)

«Es gab einfach nichts mehr zu tun. Jeder Ehrgeiz und jedes Greifen schien absurd und kontraproduktiv. Es herrschte eine tiefe Akzeptanz für die Welt, wie sie war, und meiner selbst in der Welt.» (S. 282)

«… Es gab ein Ich, aber es hatte keine Agenda.» (S. 282)

Metzinger diskutiert in diesem Zusammenhang ausführlich die Ähnlichkeit zwischen der kontemplativen Praxis des Ostens zu den Äusserungen zur Ataraxie (der Gemüts- oder Seelenruhe) in der antiken westlichen Philosophie, auf die ich hier nur hinweise.

14. Freude, Ehrfurcht, nicht-persönliche Liebe, Glückseligkeit und Dankbarkeit

«Bildlich gesprochen ist es ein Zustimmen zum Sein.» (S. 295)

«Der Zustand enthält eine innere Süsse, die sehr subtil ist und die ich wie eine Art `Urglück`empfinde.» (S. 295)

Metzinger betont, dass das reine Bewusstsein als solches «kein emotionaler Zustand» ist! «Andererseits kann es ein ganzes Spektrum von meist positiven affektiven Zuständen wie etwa Freude, existenzielle Leichtigkeit, Dankbarkeit, unpersönliche Liebe, Ehrfurcht und staunende Verwunderung auslösen. Diese Zustände reichen in ihrer Intensität von sehr zart und ganz natürlich bis hin zu dramatischen und überwältigenden Erscheinungsformen.» (S. 295)
Sehr interessant finde ich seine folgende Interpretation. Er schreibt, dass das reine Bewusstsein «manchmal mit einer meist sehr subtilen, aber deutlich wahrnehmbaren Form von Glückseligkeit» einhergeht. «Diese Art von Glückseligkeit besitzt einen primordialen, ursprünglichen phänomenalen Charakter – als wäre es die Urform aller positiven Empfindungen…» eine Art «Urglück». (S. 295) Im Deutschen gäbe es auch, schreibt er weiter den Begriff des «stillen Entzückens», das eine ruhige, undramatische Form des Ergriffenseins und der Verzückung wiedergibt, ein «sensationsloses Staunen», das mit dieser Form des Urglücks verbunden sein könne. (S. 296) Viele Meditierende bringen dieses Urglück auch ausdrücklich mit ihren Kindheitserfahrungen in Verbindung, wie folgende Beispiele zeigen.

«… erlebte ich im Garten ein Einssein mit der Natur und mit allem, was existiert. Ich hatte das Gefühl, dass ich dies als Kind schon erlebt hatte.» (S.296)

«Ich wurde von einer sehr lebendigen Erinnerung an das Spielen im Wald als kleines Kind überflutet. Es fühlte sich nicht besonderer an als die gewöhnliche Existenz eines jeden Kindes vor dem Trauma.» (S. 296).

Metzinger kommentiert: hier finden wir dieselben Elemente von «Unschuld, des Staunens, der Sanftheit und der Zeitlosigkeit» (S. 296) sowohl bei Erfahrungen des reinen Bewusstseins Erwachsener, als auch bei den Erlebnissen des glücklich spielenden Kindes.

Wenn man genau hinsieht, so Metzinger, kann man ein ganzes Spektrum positiver emotionaler Qualitäten erkennen, die mit Episoden reinen Gewahrseins einhergehen, wie Liebe, Staunen, Dankbarkeit, intensives Ergriffensein, entgrenztes Gehaltensein, eine bedürfnislose Erfülltheit, ein kindliches Gefühl der Freude und Ehrfurcht. (S. 297) Hierzu ein paar wenige Beispiele:

«… Man erfährt das Gefühl bedingungsloser Liebe, ein … inhärenter Teil des Universums zu sein, ohne Trennung…» (S. 299)

«Es ist ein Gefühl von Verschmelzung mit allem Glück und aller Liebe. Es ist sooooo, sooooo gross….., schwerelos, die Worte, die wir hier zur Verfügung haben, reichen für die Beschreibung doch nicht aus.» (S. 300)

All diese Gefühle der Liebe, der Dankbarkeit, der Freude, etc. können eine non-duale Qualität besitzen. Eine Reihe von Studienteilnehmenden berichten auch über ein nicht emotionales, berührtes Weinen:

«… zu tiefst friedvoll, zu Tränen gerührt, wie es ist, das Gefühl von `zu Hause sein`…» (S. 301)

«… Mein Körper war … sehr entspannt, mein Geist wach und ohne Gedanken, emotional war ich berührt, und es flossen Tränen…» (S. 301)

Viele berichten über ein «tiefes Ergriffen- und Berührtsein» und «Tränen der Freude», was die existenzielle Relevanz solcher Erfahrungen bezeugt. Weitere Ausdrucksformen die mit diesen Erfahrungsqualitäten in den Erfahrungsberichten zur Sprache gebracht werden sind «Zustimmen zum Sein», die «Berührung und das Begegnen mit der eigenen Seele» sowie das «entgrenzte Gehaltensein», «wie ein Aufwachen in das richtige Leben» und «eine Art Erweckung zum Menschlichen». (S. 304)

Metzinger diskutiert an dieser Stelle ausführlich die Frage nach spirituellen und explizit religiösen Erfahrungen, auf die ich hier nicht eingehe.
Interessant scheint mir die Fragestellung: wann solche Erlebnisse auftreten: während einer vollständigen Periode der Absorbtion, also während des Auftretens des reinen Bewusstseins oder eher davor, also während man noch versucht, sein Bewusstsein zu beruhigen und auf die Meditation auszurichten oder nach, d. h. im Ausgang aus tiefer Absorbtion, d. h. hinterher, nachdem ein Zustand reinen Bewusstseins aufgetreten ist. (S. 305f.) Er verweist bei seiner Diskussion dieser Frage darauf, dass Zustände in der Meditation sehr fluktuierend sein können und sich schnell abwechseln können. Er fragt in diesem Zusammenhang auch danach, ob es so etwas wie einen «prototypischen Kern», ein «Eigenschaftsbündel» für reine Bewusstseinszustände gibt. (S. 308f.) «Bei Meditierenden können Erfahrungen reinen Bewusstseins auftreten, ohne automatisch Freude, Ehrfurcht, Glückseligkeit oder Dankbarkeit auszulösen», so Metzingers Fazit. Vielleicht ist das “Urglück” von dem er weiter oben spricht ja der “Beginn” aller positiven Emotionen? Andererseits spricht er ja all diesen unterschiedlichen positiven Emotionen auch eine “non-duale Qualität” zu. Die spannende Frage, wann nun genau solche Erlebnisse eintreten, lässt er zu guter Letzt unentschieden.
Meiner Meinung nach wäre es sehr spannend, in diesem Kontext ausführlich die im indischen und fernöstlichen Kulturraum weithin verbreiteten Brahma Viharas zu diskutieren, die sog. «Grenzenlosen Zustände»: Metta (Pali. – dt.: Liebende Güte), Upekkha (Pali. – dt. Gelassenheit), Mudita (Pali – dt.: Freude/Mitfreude) und Karuna (Pali – dt.: Mitgefühl). Denn die Brahma Viharas nehmen für sich in Anspruch, «Grenzenlose Zustände» zu sein, d. h. nicht-duale Zustände, die zwar vor einem reinen Bewusstseinszustand kultiviert werden, während dem reinen Bewusstseinszustand non-dual, daher «grenzenlos» sind und hinterher als Grundton menschlichen Seins ins alltägliche Leben integriert werden. Interessant wäre es meiner Meinung nach das Verhältnis zwischen den Brahma Viharas und dem natürlichen Auftreten solcher Zustände zu erforschen. Ich vermute, das natürliche Auftreten der Brahmaviharas ist einerseit typenspezifisch, d. h. anlagebedingt, andererseits fördern Erlebnisse des reinen Bewusstseins solche Erfahrungen von Natur her, wie Metzingers Beispiele zeigen. Viel mehr werden sie jedoch durch die entsprechenden Meditationspraktiken, d. h. die Kultivierung der Brahma Viharas gefördert und in den Alltag integriert.

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