Ist es nicht erstaunlich, dass so unterschiedliche Meditationsformen und damit verbundene kulturelle Praktiken dieselbe 0. Person-Perspektive, resp. ein reines Bewusstsein hervorbringen und eine Bandbreite von “Erfahrungen”, über die in allen Traditionen berichtet wird? Dies bedeutet, dass wir alle über dieselben oder zumindest sehr sehr ähnliche körperlich-physiologische Bedingungen und Vorgänge verfügen, die uns über die Kultur- und Traditionsgrenzen hinweg miteinander verbinden und uns in der Evolution des Bewusstseins in die Entwicklungsgeschichte mit den Pflanzen und Tieren einreiht. Ich finde, wir sollten uns in der heutigen Zeit der Abgrenzung und des zunehmenden Gruppendenkens auf universelle Aspekte unseres Menschseins konzentrieren, wie Thomas Metzinger dies mit seinem Buch unternimmt.

15. Einfachheit und Tiefe

«Die Gewissheit, dem NICHTS begegnet zu sein.» (S. 313)

«Einheit und Nichtsheit zugleich, perfekt ausbalanciert.» (S. 313)

«Es ist ein Bereich vollkommener Stille. Einfachheit. Nicht ist da, was ausgedrückt, mitgeteilt oder bewertet werden müsste. Einfachstes Sein.» (S. 313)

Eine methodologische Hintergrundannahme von Metzingers Forschungen bestand darin, dass es sich beim reinen Bewusstsein um die einfachste Form des bewussten Erlebens handeln könnte, zu der der Mensch fähig ist.
Als erstes spricht Metzinger kurz über paradoxe Formulierungen in den Aussagen der Meditierenden und spricht von einer “Paradoxen Phänomenologie des Nichts” (S. 314). Davon auszugehen, dass paradoxe Formulierungen eine Erfahrung beschreiben, also deskriptiv sind, scheint mir nicht notgedrungen. Paradoxe Formulierungen könnten auch «Theoriekontaminationen» sein, denn paradoxe Formulierungen finden sich in vielen kontemplativen Traditionen und stehen im Dienst der sog. Apophatischen Sprache. Hierbei geht es um das Hinweg-Reden oder ungesagt machen ontologischer Aussagen, also von Aussagen über das «Sein» von gewissen Benennungen über die letzten Dinge, die in der Meditation erfahren werden. Paradoxe Formulierungen könnten also nicht etwas beschreiben, sondern dienen vielmehr dazu, etwas ungesagt zu machen, hinwegzureden und entsprechen einem bestimmten kulturell tradierten “Sprachspiel” (Wittgenstein), das von den Probanden möglicherweise einfach übernommen wird. Insbesondere im Zen sind paradoxe Formulierungen allgegenwärtig. In seinem Aufsatz Paradox and Enlightenment in Zen Dialogue and Phenomenological Description (in: Journal of Chinese Philosophy, Vol.3 (Juni 1976), S.269-280) hat u. a. Philip Bossert ausführlich darüber geschrieben. Es muss bei jedem Erfahrungsbericht von neuem beurteilt werden, ob paradoxe Formulierungen wirklich etwas beschreiben oder im Dienst der Apophatischen Sprache stehen.
Metzinger macht anschliessend darauf aufmerksam, dass östliche und westliche philosophische Traditionen “in der Annahme konvergieren, dass `geringe Komplexität` eine wesentliche semantische Bedingung für einen überzeugenden Begriff des reinen Bewusstseins bilden muss.” (S. 315) Das bedeutet: reines Bewusstsein ist “etwas maximal Einfaches” und inhaltlich Undifferenziertes, dem “jede interne Struktur oder eine zeitliche Dynamik fehlt”. (S. 315)

16. Leerheit und Fülle

«Um erfüllt zu werden, muss man leer sein.» (S. 333)

«Unendliche Weite, Stille, eine Leere, die voll und lebendig ist.» (S. 333)

«… Es ist eine Leere, die nicht die Abwesenheit von etwas bedeutet, sie ist nicht das Fehlen von etwas, sondern sie ist ganz elementar, sehr real und klar, extrem lebendig und die Gegenstände Stuhl, Tisch etc. erscheinen zwar immer noch als Stuhl und Tisch, aber nicht mehr so real; als wären sie nur Traum-Gegenstände. Sie treten als bedeutungslos in den Hintergrund und in den Vordergrund tritt eine ganz präsente Leere, die aber mehr ist als der Zwischenraum zwischen den Gegenständen. Die lebendige Leere durchdringt dann alles, Begriffe wie «hier» und «jetzt» existieren nicht mehr…» (S. 334)

«Das Erlebnis einer absoluten, dem Tiefschlaf vergleichbaren Leere…» (S. 334)

Viele Meditierende, schreibt Metzinger, beschreiben die Erfahrung der Leere oder Lehrheit, die gleichzeitig mit der Erfahrung von Fülle verbunden sein kann. Die fragliche Art von Leerheit besteht in einer globalen Qualität von Offenheit und Verbundenheit, “wie ein klarer, leerer Raum”. (S. 333) Hier Zitate, welche Leerheit und Fülle zusammenbringen:

«… Gefühle von Leere und Fülle zugleich. Mit Gefühlen von Gelassenheit, Friedlichkeit und Leichtigkeit.» (S. 334)

Leerheit (sunnata in Pali, sunyata in Sanskrit) ist einer der wichtigsten Begriffe des Buddhismus. Allerdings kann man einen metaphysischen oder Philosophischen Begriff der Leerheit von der Erfahrung, d. h. der Phänomenologie der Leere unterscheiden. Aus philosophischer, resp. metaphysischer Sicht bedeutet Leerheit die Abwesenheit von Substanzialität, d. h. einem dauerhaften, festen Seins-Kern, weil alle Phänomene durch wechselseitige Bedingtheit mit anderen Phänomenen mit allem verbunden sind. Metzinger hingegen fokussiert auf die Erfahrung der Leerheit und deutet sie als epistemische, d. h. erkennende Offenheit gegenüber der Welt. “Es handelt sich dabei um eine Offenheit in Bezug auf das Erkennen und Wissen; auf einen inneren Raum, der durch die Möglichkeit definiert ist, Wissen zu erwerben. Der Begriff der epistemischen Offenheit bietet eine moderne Neuinterpretation des alten buddhistischen Begriffs der Leerheit an.” (S. 336) Vollständige Absorbtion ist, so Metzinger, der Hauptkandidat für die Entstehung einer Erfahrung von Leerheit. «Hier ist die epistemische Offenheit an sich alles, was existiert.» (S. 336) “Bei der achtsamen Wahrnehmung kann zum Beispiel das «Sehen der leeren Natur aller Phänomene» eine spezifische Form des bewussten Erlebens ohne die geringste Spur von begrifflicher Überlagerung beinhalten: die klare und kristallklare Phänomenologie des Sehens und Wahrnehmens aus einem Raum zeitloser Stille heraus.” (S.337) Alle Dinge zeigen sich dem achtsamen Betrachter in ihrer So-heit. Der Wahrnehmungsinhalt ist epistemisch offen für eine Vielzahl von begrifflichen Interpretationen und Perspektiven, die in dieser Offenheit möglich werden. Auch die Annahme einer Subjekt-Objekt-Differenz in bei dieser Weise des Erlebens verschwunden – was eine vertiefte Struktur der Offenheit ermöglicht. Auch die Unterscheidung zwischen existierend und nicht-existierend kann in dieser tiefen Offenheit

Der neunte Karmapa Wangchuk Dorje schreibt: «Leerheit ist die Natur des Geistes, Klarheit ist seine charakteristische Eigenschaft, und [ihre] Vereinigung ist seine Essenz. Sie ist frei von allen Extremen der Ausgestaltung, wie Gut und Schlecht, Entstehen, Vergehen und Verweilen, Existenz und Nichtexistenz, Beständigkeit und Unbeständigkeit. Sie transzendiert Sprache oder Denken und ist jenseits jeder Identifikation. Und doch gibt es etwas zu erfahren: Es ist die scharfe, nackte Klarheit, deren Wesen Glückseligkeit, Klarheit und Nicht-Begrifflichkeit ist.» (S. 335)

Metzinger thematisiert in diesem Kapitel sehr ausführlich die Gefahr der Theoriekontamination durch metaphysische Annahmen, die, wie er betont, auf “zwei Wurzeln” (S. 339ff.) zurückzuführen sind:

  1. Das menschliche Grundbedürfnis nach Bedeutungserleben oder unbewusst ablaufender Sinnstiftung durch kohärente autobiographische Geschichten, die Unsicherheit reduzieren. Metzinger spricht sogar von einem «tief verwurzelten Bedürfnis nach narrativer Selbsttäuschung» (S. 347) und der «ständigen Suche nach thematischer Stabilität» (S. 355), die sich u. a. in Tagträumen und Fantasien ausdrückt, um sich vor Leiden zu schützen.
  2. Der Verleugunung unserer eigenen Sterblichkeit als einer tief liegenden, «leiblich verankerten Existenzverzerrung». (S. 372)

“Viele Formen der Meditationspraxis” sind hingegen, schreibt Metzinger, “das genaue Gegenteil dieser zukunftsorientierten Zuckerglasur für die Gegenwart…” denn “achtsames Gewahrsein beendet die innere Erzählung. Das autobiographische Selbstmodell kommt zur Ruhe”. (S. 359) Die “Sisyphos-Qualität” unseres alltäglichen Daseins mit dem Verzweifeln an dem Gefühl der Vergeblichkeit und Absurdität unseres Lebens weicht durch Meditation in eine Erfahrung “existenzieller Leichtigkeit”, so Metzinger. (S. 375) Ich weise hier lediglich auf seine ausführlichen Überlegungen hin, ohne seine Argumentationsgang zu diskutieren. Dies würde den Rahmen dieser Blogbeiträge bei weitem sprengen.

17. Helligkeit

«…Die Leere war leuchtend…» (S. 380)

«… Fast unmöglich zu beschreiben, weil das Wort `Erfahrungen`eigentlich völlig daran vorbeigeht. Am ehesten wie ein aus sich selbst heraus strahlender, grenzenloser Gewahrseins-Raum ohne Zentrum und Rand…» (S. 380)

«Es gab ein Gefühl von Energie, nicht-visueller Helligkeit…» (S. 380)

«Ich hatte spontan das Gefühl, durch ein Tor aus Licht zu `schweben`. Dort befand sich nichts ausser warmem, hellem Licht. Es gab meine Person/meinen Körper nicht mehr, alles war nur noch Licht» (S. 381)

“Helligkeit”, “Leuchtkraft”, “Eingenstrahlkraft” oder “Erleuchtung”, sind Erlebnisqualitäten, mit denen manchmal reine Bewusstseinserlebnisse beschrieben werden. Metzinger schreibt: “Viele Praktizierende beschreiben eine nicht-sinnliche Phänomenologie von `klarem Licht`… während andere von einer eher visuellen Form von Helligkeit berichten, die sowohl mit geschlossenen als auch mit offenen Augen erlebt werden kann.” (S. 379) Die zweite Art von Helligkeit ist “mit einer bestimmten Sinnesmodalität verbunden”, einer “quasi-perzeptuellen Leuchtkraft”, man könnte diese auch als “konkrete Erleuchtung” bezeichnen. (S. 380) Häufig sei die Rede von einem «milchigen» oder «schimmernden» Licht, das manchmal von “Wärmeempfindungen” begleitet sei. (S. 381) Sie “scheinen”, schreibt Metzinger, “innere Vorgänge zu sein, die sich im Laufe der Zeit entfalten. Natürlich ist es denkbar, dass die Erfahrung leuchtender Leerheit zu einem Erleben visueller Helligkeit und Leuchtkraft führt (oder umgekehrt); dass beide sich in bestimmten Zuständen vermischen oder sie in Wirklichkeit Stufen ein und desselben Prozesses bilden”. (S. 381)
Metzinger diskutiert die in der Meditation auftretenden Varianten von Helligkeit ausführlich. Die Menschheit hat sich darüber schon viele Gedanken gemacht. Ich verweise hier lediglich auf die Buddhistischen Überlegungen zu Erlebnissen der Helligkeit und Metzingers Deutung. Nach klassischer buddhistischer Lehre steht «Helligkeit» (Sanskrit: prabhāsvaratā) in direktem Zusammenhang mit der “Eigenstrahlkraft des Bewusstseins selbst” sowie mit dem Begriff des “leuchtenden Geistes”, der auch als “hell leuchtender Geist” oder “Geist des klaren Lichts” übersetzt wird und insbesondere im Tibetischen Buddhismus und da vor allem im Tibetischen Totenbuch eine zentrale Rolle einnimmt. (S. 390f.) Metzinger zitiert aus dem Tibetischen Totenbuch und kommentiert: “Wir finden hier die Aspekte der Strahlkraft, des hellen Leuchtens und der Lebendigkeit sowie die Elemente der Weite und der Klarheit. Sie alle werden auch von unseren heute lebenden Meditierenden bestätigt.” (S. 391) Er interpretiert diese Erfahrung ebenfalls im Licht seiner Hypothese als epistemische Offenheit, also der Fähigkeit, zu wissen und zu erfahren, die auch im Tibetischen Buddhismus beschrieben und tibetisch “salwa heisst. Es ist das Erleben eines “unverstellten, aktuell hindernisfreien inneren Raum des Wissens… in dem wir uns orientieren und in dem sich Wahrnehmungsvorgänge entfalten können, in dem die Aufmerksamkeit gesteuert und fokussiert werden kann; innerhalb dessen Begriffe gebildet und auf die eigene Erfahrung angewendet werden können. Ist dieser Raum leer, dann finden gerade keine solchen Vorgänge statt. Das blosse Potenzial … wird dann als solches erfahren”. (S.391)
Metzinger diskutiert im Anschluss drei verschiedene Möglichkeiten, wie real erlebte innere Helligkeitserlebnisse erklärt werden könnten, worauf ich hier nicht eingehe. (S.393ff.)

Fortsetzung folgt im nächsten Blogbeitrag Teil 6 dieser Serie.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .