Thomas Metzinger diskutiert an zahlreichen Stellen seines Buches die Gefahr der, wie er es nennt, «Theoriekontamination» der Erfahrungsberichte seiner Probanden. Dies bedeutet, dass die Erfahrungsberichte durch die in einer kontemplativen Tradition wie beispielsweise Zen, Vipassana, Mettapraxis, Tibetischer Buddhismus, etc. bevorzugten Begriffe einseitig «verformt» oder eben «kontaminiert» werden und die persönliche innere Erfahrung nicht mehr in authentischen, neutralen, eigenen Worten wiedergegeben wird. “Theoriekontamination” kann dazu führen, dass man Worte der eigenen Tradition zur Beschreibung der eigenen Erfahrung übernimmt, ohne dass diese Worte wirklich das beschreiben, was man erlebt hat. Man kann so sich selbst und anderen etwas vormachen, was gar nicht zutrifft. Doch dies ist ein grundlegendes Problem wenn es um innere Erfahrungen geht, nicht nur um Meditationserfahrungen, sondern sämtliche inneren Erfahrungen, da uns die Innenwelt anderer Menschen stets verborgen ist. Allerdings gibt es ja auch innere Erfahrungen, die von einem Praktizierenden in einer bestimmten Meditationstradition ausgedrückt werden, welche die von dem Menschen ausgedrückten Erfahrungen gerade negiert, für unwichtig erklärt und daher nicht wertschätzt, da sie dafür keine Sprache hat! Letzteres berücksichtigt Metzinger bei seiner Analyse nicht! Darauf werde ich in meinen Ausführungen jedoch eingehen.

«Die begrifflichen Instrumente, die einem bestimmten Praktizierenden zur Verfügung stehen, prägen unweigerlich die Art und Weise, wie er uns seine eigenen Erfahrungen mitteilt. Sie durchdringen nicht nur die Sprache, sondern auch das bewusste Erleben selbst und wie wir uns an dieses Erleben erinnern.»

Der Elefant und die Blinden S.262.

In diesem Zusammenhang finde ich folgende Überlegung Metzingers insbesondere für Lehrende aber auch für Praktizierende bedenkenswert: Meditationsanfänger:innen beginnen ihre Praxis in einer «eher unschuldigen Weise» (S.326), sind offen und neugierig für die neue Erfahrungen in der Meditation. Lassen sie sich auf eine Meditationstradition ein, lesen die entsprechenden Bücher, hören die entsprechenden Vorträge in einer alten Tradition oder Übertragungslinie, «dann nimmt der Grad der Theoriekontamination ständig zu», da diese immer im Spiel ist, wenn Personen lehren oder über Spiritualität und spirituelle Erfahrungen oder den Dharma sprechen und schreiben. Daher hält er die Berichte reiner Erfahrungen von Meditationsanfänger:innen für besser geeignet, die persönliche Erfahrung authentisch wiederzugeben.
Auf Zen bezogen bedeutet dies beispielsweise: je länger jemand mit Zen-Koans arbeitet und sich mit Zen-Literatur auseinandergesetzt hat, desto mehr wird diese Person über ihre Meditationserfahrungen in der von der Zen-Tradition und seinem Lehrer/seiner Lehrerin kultivierten Zen-Sprache berichten. Das Meister-Schüler-Verhältnis kann – aber muss nicht! – bewusst oder unbewusst dazu motivieren, die von der Tradition vorgeschriebene und im Laufe der Zeit erlernte und verinnerlichte Sprache zu verwenden. Dies umso mehr, als dass es sich bei dem Lehrer:innen-Schüler:innen-Verhältnis ja gerade um ein hierarchisches Verhältnis handelt. Andererseits ist es gerade auch die von der Tradition und den Lehrenden verwendete Sprache mit ihren begrifflichen Werkzeugen, die dem Schüler/der Schülerin helfen können, ganz bestimmte Erfahrungen reinen Bewusstseins vertieft zu machen und diese Erfahrungen hinterher auszudrücken, gelingend ins Leben zu integrieren und fortan wiederholt identifizieren zu können. Überdies enthält die Sprache der Tradition auch immer ein Ethik. Eine gute Lehrerin wird bei uns im Westen heutzutage zudem die Sprache des Schülers aufgreifen und ihm für seine konkrete, individuelle Situation nützliche Begriffe aus der Tradition erläutern und transparent anbieten, um dessen Praxis zu vertiefen, Ressourcen zu stärken und gelingend mit Hindernissen umzugehen und die Selbsterkenntnis und ethisches Verhalten zu fördern.

Metzinger lenkt bei seiner Diskussion ein Hauptaugenmerk darauf, ob die Theoriekontamination zu mehr geistiger Autonomie und intellektueller Redlichkeit führt oder zu einem verengten, dogmatischen, metaphysischen, religiösen oder mythologisch-magisch geprägten Weltbild. Solche Weltbilder lehnt er angesichts neurowissenschaftlicher Erkenntnisse ab.
Dies ist insbesondere dann ein wichtiger Punkt, wenn spirituelle Lehrer und Lehrerinnen an verengten, dogmatischen Sichtweisen festhalten und ihre Schüler:innen und die Retreatteilnehmenden in narzisstischer Weise mit Macht und Unterordnung auf ein solches Weltbild und eine uniform denkende Gemeinschaft einspuren wollen. Mit anderen Worten: dies hat vorwiegend mit der Persönlichkeitsstruktur und den unaufgearbeiteten psychischen Problemen und dem Entwicklungsschwerpunkt eines spirituellen Lehrenden zu tun. Ansonsten scheint mir dies kein wichtiger Punkt zu sein, der bei der Zenschulung heute bei uns im Westen besonders relevant wäre! Denn zum Zen kommen in der Regel Menschen, die schon viel und kritisch über sich selbst und die Welt nachgedacht haben, ihre eigene Innenwelt ein Stück weit kennen – in der Sprache der Entwicklungspsychologie: Menschen, die sich meist auf der sog. Hinterfragenden oder einer noch späteren Entwicklungsstufe befinden (Siehe dazu mein Buch: Achtsame Selbstentwicklung). Allerdings besteht durchaus ab und an bei Zen-Schülern:innen eine persönliche Offenheit für metaphysisches oder magisch-mythisches Denken, welches jedoch meist ganz pragmatisch und alltagsdienlich ist, d. h. zur Bewältigung von problematischen Alltagssituationen ganz essenzielle Ressourcen zur Verfügung stellt! Metaphysisches, magisch-mythisches oder religiöses Denken und Empfinden kann für einen Menschen sehr lebensbedeutsam, weil ressourcenreich sein. Wer beispielsweise die Präsenz seines verstorbenen Partners im Alltag oder während der Meditation spürt und innerlich mit ihm kommuniziert, erfährt Trost und Zuversicht. Solche Empfindungen und Verhaltensweisen sind ganz natürlich und naheliegend. Zudem motiviert magisch-mythisches und religiöses Denken und Erleben häufig prosoziales, verantwortliches und ethisches Verhalten gegenüber der Welt und allem Lebendigen! Wozu es jemandem ausreden wollen? Das fördert bloss den Widerstand der betreffenden Person und ist weder akzeptierend, noch wertschätzend, noch integrierend im Sinne eines grösseren Ganzen, dem «Web of Life», von dem wir letztlich nicht wissen können, wie es sich «wirklich» verhält. Überdies ist Sprache – und das gilt auch für die Wissenschaften – nie frei von den Vorannahmen der gerade herrschenden wissenschaftlichen Paradigmen, der Definition von Grundbegriffen und den Interpretationen von Daten durch eine forschende Person oder ein forschendes Kollektiv. Auch Wissenschaft ist eine kulturelle Praxis ihrer Zeit. Sowie wir den Mund öffnen und sprechen, erliegen wir der Sprachverführung des Zeitgeistes und konstruieren dementsprechend unsere Welt. Manche wissenschaftliche Konstruktionen – wie beispielsweise Metzingers Hypothesen – sind sicherlich begrifflich präziser, neutraler, komplexer und empirisch nachprüfbarer als andere und in diesem Sinne wahrer und intersubjektiv verbindlicher, als z. B. die subjektiven Aussagen über innere Meditationserlebnisse eines einzelnen Menschen.
Von sich her ist Zen tendenziell anti-metaphysisch, da Aussagen über die letzten Dinge, das, wie auch immer gefasste “Absolute” als absolut unsagbar betrachtet werden. Und worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen und “Es” im Schweigen erfahren.

Was ich jedoch viel spannender finde an Metzingers kritischem Hinweis der «Theoriekontamination», ist, wenn wir den Gedanken weiterführen: dass die einzelnen Lehrenden einer Tradition ebenso wie die Blinden, bloss verschiedene Bereiche des Elefanten (des reinen Bewusstseins) ertasten. Dabei fokussieren sich zuweilen die spirituellen Lehrenden (ebenso wie ihre Schüler:innen) so sehr auf bestimmte Aspekte des Elefanten, dass sie die anderen Teile nicht mehr im Blick haben und auch bei Ihren Kursteilnehmenden, Schülern und Schülerinnen gar nicht erkennen, wenn diese in den Einzelgesprächen über andere Aspekte berichten. Auch in solchen Fällen herrscht Theoriekontamination! Es kann sogar dazu kommen, dass sie diese andersartigen Erfahrungen ignorieren, für irrelevant erklären oder gar für falsch halten und überhaupt nicht in der Lage sind, sie angemessen zu würdigen, weil sie nicht ihren Vorstellungen oder denen ihrer Tradition entsprechen. So könnte man sich auch die nicht enden wollenden Diskussionen zwischen Zen-Lehrenden (und Schülern:innen) über die «Wahre Natur» oder «das Wesen des Zen» erklären. So behaupten die einen beispielsweise , dass man nichts, aber auch gar nichts über die Zen-Erfahrung sagen könne, dass sie «vollkommen unsagbar» sei und man sie nur non-verbal durch spontanes Handeln, Shakuhachi spielen, Kyodo, Kalligraphieren, etc. ausdrücken könne und nur noch staunen, ergriffen und dankbar dafür sein könne. Andere hingegen behaupten mit Vorliebe, dass sie ins «Nicht-Ich» führe und es nichts anderes mehr gäbe als dieses «Nicht-Ich». Da sei keine Person mehr, die im Alltag handle. Einzig darauf komme es an. Wieder andere behaupten, dass die «Leere» das Wesen des Zen ausmache, keine Substanz, nur Leerheit, wohin man auch schaue; und dass einzig und allein das Koan-Studium die wahre Erkenntnis der Leerheit von allem in allem ermögliche. Wieder andere reden ständig von der inneren Stille, der unendlichen Zeitlosigkeit und der Präsenz im gegenwärtigen Augenblick durch die Übung des reinen Gewahrseins und des wiederholten zum Atem Gehens im Alltag. Wieder andere sagen, man müsse das Nirvana im eigenen Körper und allen Sinneserfahrungen auskosten und seine grenzenlose Weite ohne Zentrum und Peripherie erleben. Und wieder andere behaupten, Zen führe in ein grenzenloses Mitgefühl mit allen Lebewesen oder in die Erfahrung der «Interconnectedness of Life» (Bernie Glassman) oder des «Inter-Seins» (Thich Nhath Hahn). Etc.
Wer unter diesen unzähligen Blinden hat nun recht? Vielleicht keine:r oder jede:r? Und unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Sichtweisen und Bedürfnissen werden, je nach Präferenz, von unterschiedlichen Lehrenden angezogen. Differenz und Andersartigkeit kann anregend sein, wenn man nicht das Bedürfnis nach kohärenten, geschlossenen Geschichten, die Sicherheit vermitteln, hat und für sich beansprucht im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein.
Dasselbe gilt für die spärlichen Dialoge zwischen den verschiedenen kontemplativen Traditionen – wobei es sich in den meisten Fällen häufig um bewertende Kommentare über andere Traditionen handelt. Auch hier sind sprechende Blinde am Werk, die zuweilen der Überzeugung sind, dass ihre Tradition über den wahren, besten, schnellsten Weg ins reine Bewusstsein verfügt. Ein Burmesischer Mönch sagte mir einmal: “Wir burmesischen Mönche rezitierten den Palikanon auf Pali! In Thailand rezitieren die Mönche ihn auf Thailändisch. Daher sind die Burmesen die besseren Buddhisten!” Und ein Meditationslehrer eines Metta-Retreats meinte: “Aha, sie haben so viele Jahre Zen betrieben. Sie haben so viele Jahre falsch praktiziert!” Herrscht hier vielleicht Theoriekontamination? In der Sprache der Entwicklungspsychologie: In solchen Momenten befinden sich die Betreffenden vermutlich gerade auf der Gruppenzentrierten Entwicklungsstufe, wo man sich mit der eigenen In-Group identifiziert, und die anderen Gruppen, die Out-Groups runtermacht, um das eigene Selbstwertgefühl ein bisschen zu erhöhen. Man kann solches Verhalten auch als eine Form von Ressentiment interpretieren. Nur zu gut, dass Erfahrungen reinen Bewusstseins uns immer wieder von neuem öffnen, neugierig machen und von sich aus für Toleranz und Verbundenheit auch mit Andersartigkeit sorgen können! So können wir immer wieder von neuem erkennen: die Andersdenkenden und Wir sind letztlich ungetrennt, eins!

Metzingers Buch kann unseren zuweilen begrenzten Horizont öffnen, um das reine Bewusstsein in seinen zahlreichen Aspekten in unserer Meditationserfahrung auszuloten, sprachliche Benennungen jedoch auch immer wieder von neuem über Bord zu werfen im Wissen, dass sie letztlich nie zutreffen können, um aus der eigenen Erfahrung immer wieder von neuem achtsam zu wachsen und kraftvoll zu wirken. Wenn Meditation – egal wie wir darüber sprechen – unseren Lebensalltag lebenswerter macht im Sinne eines gelingenden Lebens und unser Miteinander und Füreinander wohlwollender, mitfühlender, friedlicher und glücklicher wird, dann ist sie gut. An den Früchten im Alltag erkennt man den Wert einer Praxis. Auch dies ist nur ein weiterer, begrenzter Satz über das reine Bewusstsein. Und wenn gerade mal keine Früchte erkennbar sind, ist auch das noch eine Frucht!

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