Autor: Peter Widmer

Habe ich eine starke kritische Seite?

Close-up of blond woman

Wiederholst Du in Deiner Erinnerung Gespräche, die Du geführt hast und überprüfst, was Du nicht richtig oder noch besser hättest sagen können? Schaust Du, bevor Du das Haus verlässt Dein Äusseres kritisch im Spiegel an? Bist Du vorsichtig, wenn Du neue Dinge ausprobierst, weil Du Angst hast, vor anderen dumm dazustehen? Hinterfragst Du Deine Entscheidungen nachdem Du sie getroffen hast und glaubst, dass Du hättest besser entscheiden müssen? Wenn Du mit anderen zusammen bist, hast Du dann das Gefühl, dass Sie in irgendeinem Sinne besser sind als Du?

Wenn Du eine oder mehrere dieser Fragen mit „ja“ beantwortest, dann könnte es vielleicht sein, dass Du eine starke kritische Seite hast, die Dir zuweilen das Leben schwer machen kann. Wie Du Deinen hart arbeitenden inneren Kritiker kennen lernen, wertschätzen und mit ihm Frieden schliessen kannst, so dass er weniger hart arbeiten muss, zeige ich Dir in diesem Blogbeitrag.

Ein Lob auf den inneren Kritiker/die innere Kritikerin

Dass wir kritisch sind gegenüber Dingen, anderen Menschen und uns selbst, ist ganz normal und sinnvoll. Denn ohne kritische Seite würden wir schlechthin alles für bare Münze nehmen, was uns jeder X-Beliebige sagt und aufgrund unserer Blauäugigkeit nach Strich und Faden ausgenutzt werden. Daher ist es wichtig, dass wir als Kinder eine kritische, skeptische Seite in uns entwickeln. Diese Seite sorgt gut für uns, damit uns niemand ein X für ein U vormachen kann. Sie sorgt auch dafür, dass wir uns selbst und andere realistisch einschätzen und dass uns die Dinge, die wir in Angriff nehmen auch tatsächlich gelingen. Der innere Kritiker zeigt uns, was alles nicht gut ist und nicht gut läuft und weist uns darauf hin, wie wir uns als Einzelne und als Kollektiv besser verhalten könnten. Daher ist der innere Kritiker prinzipiell eine bedeutsame, lebenswichtige und wertzuschätzende Seite in jedem Menschen und für unsere Gesellschaft als Ganze.

Allein wenn unsere kritische Seite übertrieben stark und ständig in unserem Alltag präsent ist, 24 Stunden, 7 Tage die Woche, bei fast allem, was wir tun, dann kann es sein, dass wir die Lebensfreude verlieren und das Mitgefühl mit uns selbst und anderen.

Der Ursprung eines/einer hart arbeitenden inneren Kritikers/Kritikerin

Der/Die innere Kritiker/in entsteht in unserer Kindheit, in der wir die Bewertungen und Erwartungen der lebensbedeutsamen Menschen und der Gesellschaft um uns herum internalisieren, d. h. übernehmen. Da diese Übernahme von Bewertungen und Erwartungen unbewusst erfolgt, sind sich die meisten Menschen gar nicht bewusst, wenn ihre kritische Seite sich zu Wort meldet. Sie halten die Art und Weise wie und was sie kritisieren für ganz selbstverständlich und ganz natürlich. Sie sind mit ihrer kritischen Seite voll und ganz identifiziert.

Wenn sich ein Kind verbal und nonverbal, ständig und wiederholt kritisiert fühlt und das Gefühl hat, den Erwartungen der Eltern nicht zu genügen, dann kann es eine grosse, dominante kritische Seite in sich entwickeln. Es kann sein, dass Eltern in bester Absicht handeln und ihren Kindern helfen wollen, sich zu verbessern.
Doch gerade kleine Kinder nehmen Kritik persönlich. Und da es für sie weniger schmerzhaft ist, sich selbst zu kritisieren, als von aussen, von den Erwachsenen, kritisiert zu werden, sagen sich die Kinder die kritischen Sätze lieber selbst, bevor andere es erneut wieder tun. Auf diese Weise werden die äusseren Kritiker zum inneren Kritiker der Kinder. Je schwieriger und missbräuchlicher die Beziehung zwischen den lebensbedeutsamen Erwachsenen und einem Kind, desto gravierender und lebensfeindlicher ist meist der innere Kritiker des Kindes. Bekanntlich bestimmt der Empfänger, also der Zuhörer, die Bedeutung einer Botschaft. Wessen kritische Seite bereits in der Kindheit stark ausgebildet wird, der oder die Betreffende neigt leider oft später im Leben dazu, Dinge, die andere sagen, vorschnell als (mögliche) Kritik zu interpretieren.

Die dominante, starke innere kritische Seite hat zum Zeitpunkt ihrer Entstehung eine positive Absicht: das Kind von äusserer Kritik und Herabsetzung zu schützen, indem es sich selbst kritisiert. Beziehungen werden damit weniger schmerzhaft. Die kritische Seite lebt oft in der Angst, nicht gut genug zu sein und deshalb von anderen verlassen, fallengelassen oder zurückgewiesen zu werden.

Wie sich eine stark entwickelte kritische Seite auf das Leben auswirken kann

Ein übermässig entwickelter innere/r Kritiker/in ist meist involviert in Befürchtungen, Katastrophenphantasien, Ängsten, Depressionen, Schlafstörungen und jeglichen Arten von Suchtverhalten.
Eine starke innere Kritikerin/ein starker innerer Kritiker ist meist auch ein Schlüsselfaktor in sich wiederholenden dysfunktionalen Beziehungen und Missbrauchsgeschichten.
Wohlwollen, Komplimente und die Liebe anderer kann der/die innere Kritiker/in, wenn überhaupt, nur schwer an sich heran lassen. Sie werden kritisch hinterfragt.
Und aufgrund des Prinzips „Wie innen so auch aussen“ – kann sich der innere Kritiker/die innere Kritikerin potentiell sowohl gegen die eigene Person als auch gegen andere richten.
Ebenso stark, wie man sich selbst kritisieren kann – genauso stark kann man auch andere kritisieren. Denn so wurde die kritische Seite ja auch durch eine nach aussen kritische Person vom Kind verinnerlicht. Und so ist der/die Kritisierte mit der Rolle des/der Kritisierenden aus eigener Erfahrung sehr gut vertraut. Gleichwohl haben Menschen gewisse Tendenzen. Einige haben die Tendenz, eher sich selbst zu kritisieren, andere neigen dazu, eher andere Menschen zu kritisieren. Und einige kritisieren eben sich selbst und andere genauso stark, gleichzeitig und/oder hintereinander.
Und schliesslich kann der innere Kritiker/die innere Kritikerin auch noch sich selbst kritisieren, weil da immer so viel Kritik ist. Aber Menschen sind eben verschieden. Daher wirkt sich der/die innere Kritiker/in immer ein wenig anders und individuell auf das Leben einer Person und deren Umfeld aus.
Auf jeden Fall aber unterminiert ein stark entwickelter Kritiker das eigene Selbstwertgefühl, so dass der/die Betreffende sich zuweilen wertlos, schwach, schlecht, schuldig, schamerfüllt, peinlich berührt oder unfähig fühlt.

Die kritische Seite während der Meditation

Während der Meditation taucht ein/e innere/r Kritiker/in beispielsweise in Sätzen auf wie: „Wenn Du nicht regungsloser oder gerader sitzt und Dich besser konzentrierst, wirst Du nie erleuchtet werden!“  „Die anderen meditieren alle besser als Du!“ „Du machst alles falsch!“  „Bei Dir ist Hopfen und Malz verloren!“  „Das schaffst Du nie Du kleines Licht!“ „Wie atmest Du bloss?!“ und dergleichen mehr.
Die kritische Seite kann sich in der Stille der Meditation wunderbar über alles Mögliche und Unmögliche auslassen, den störenden laut atmenden Nachbar, den Strassenlärm, diesen heiligtuerischen Zen-Lehrer, die strikten Regeln und Vorschriften und einem die Meditation so richtig verleiden.
Wenn dann also der innere Kritiker/die innere Kritikerin so richtig im „Default Mode Operation System“ hängenbleibt, kann eine Innere Friedenskonferenz kombiniert mit der Meditationspraxis liebevoller Güte sich selber gegenüber wahre Wunder bewirken.

Den/Die innere/n Kritiker/in kennenlernen und mit ihm/ihr Frieden schliessen

In der Inneren Friedenskonferenz geht es zunächst darum, seinen eigenen inneren Kritiker/die innere Kritikerin kennen zu lernen und sich von ihm/ihr zu desidentifizieren, d. h. die Erfahrung zu machen, dass es sich lediglich um eine Seite in uns handelt und nicht uns als ganze Person ausmacht. Wir sind mehr als unser innerer Kritiker/unsere innere Kritikerin! Wir erforschen, zusammen mit dem Klienten die verschiedenen Facetten dieser inneren kritischen Seite, indem wir mit seiner kritischen Seite in einen Dialog treten und ihr verschiedene Fragen stellen.

Beispiel: die kritische Seite kennen lernen

Coach: „Bitte frag doch Deinen inneren Kritiker Mal, was er nicht gut findet an Dir.“
Markus: „Er sagt, ich arbeite nicht hart genug, ich könnte mich noch verbessern und meine E-mails schneller beantworten oder mich besser auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren, als mich abzulenken mit Dingen, die eigentlich gar nicht so wichtig sind, wie Kaffeetrinken oder eine Zigarette rauchen.“

Coach: „Sagt er noch mehr?“
Markus: „Ja, der Kritiker sagt, ich würde mich zu schnell ärgern, wenn andere nicht das tun, was ich gerne von ihnen hätte. Dann würde ich zu laut werden und mich zu sehr aufregen. Das ist dem inneren Kritiker dann peinlich.“

In der ersten Phase des Kennenlernens eines inneren Kritikers geht es darum, die Gefühle, Glaubenssätze und die Umstände der Entstehung des inneren Kritikers zu erforschen. Das führt für den Klienten zu einer Erfahrung der Desidentifikation und der emotionalen Einsicht: „Aha! Ich bin mehr als nur die kritische Seite in mir!“ Es führt oft auch zur Einsicht: „Was ich auch tue, ich kanns der inneren Kritikerin/dem inneren Kritiker nicht recht machen, wenn er/sie richtig stark ist.“

In einem weiteren Schritt geht es darum, die „Geschenke“ dieser kritischen Seite zu würdigen, das, wofür der innere Kritiker/die innere Kritikerin gut sorgt. Damit verbunden ist oft auch, dass der Klient erkennt, welche Befürchtungen die kritische Seite in ihm hat, was geschehen könnte, wenn sie ihren Job, zu kritisieren, nicht mehr machen würde.

Beispiel – die Befürchtungen und Geschenke würdigen

Coach: „Was stellt der innere Kritiker für Dich sicher?“
Markus: „Dass ich meine Aufgaben zeitig erledige und nicht rumdudle. Die E-mails schnell genug beantworte. Und dass ich nicht zu ärgerlich werde, wenn die anderen nicht das machen, was ich von ihnen gerne möchte.“

Coach: „Was würde passieren, wenn es den inneren Kritiker nicht gäbe? Was sind deine Befürchtungen?“
Markus: „Naja – der innere Kritiker sagt, ich würde mich sonst vollkommen blamieren vor den anderen, ich wäre nicht verlässlich genug und niemand würde mit mir zusammen leben oder zusammen arbeiten wollen, wenn ich ständig cholerische Wutausbrüche hätte. Ich wäre einsam und verlassen.“

Es geht darum, den inneren Kritiker zu wertschätzen für seine Arbeit. Wofür er sich hier einsetzt ist wichtig und bedeutsam: für gelingende zwischenmenschliche Beziehungen und den Erfolg in der Arbeitswelt.
In einem weiteren Schritt geht es aber auch darum, der kritischen Seite verständlich zu machen, was alles nicht möglich ist, wenn sie zu hart arbeitet. Und schliesslich geht es darum, mit der kritischen Seite zu verhandeln, um herauszufinden, was sie braucht, um nicht mehr hart arbeiten zu müssen, damit letztlich Dinge und Erfahrungen möglich werden, die bis anhing unmöglich waren.

Eine Kleine Übung

Hier eine kleine Übung, die Du für Dich jetzt machen kannst, um Deinen inneren Kritiker besser kennen zu lernen.

  1. Schreib die Sätze und Überzeugungen auf, die Dein innerer Kritiker/deine innere Kritikerin hat.

… Nimm Dir ausreichend Zeit dafür …

  1. Was stellt der innere Kritiker für Dich damit sicher? Was sind seine Befürchtungen, was geschehen könnte, wenn er nicht so hart für Dich arbeiten würde?

… Nimm Dir ausreichend Zeit dafür …

  1. Was braucht Dein innerer Kritiker/deine innere Kritikerin von Dir, damit Sie nicht mehr so hart zu arbeiten braucht?

… Nimm Dir auch ausreichend Zeit für diesen Schritt …

  1. Wie fühlst Du Dich jetzt? Was geht in Dir gerade vor, nachdem Du das herausgefunden hast?

Falls etwas mehr innerer Friede, Klarheit und das Gefühl einer Entlastung sich einstellt, ist Dir die Desidentifikation von Deinem inneren Kritiker ein Stück weit geglückt.

Eine starke, dominante kritische Seite lässt sich nicht von heute auf Morgen einfach weg haben. Ganz im Gegenteil: je mehr wir sie weg haben wollen, desto stärker wird sie, zeigt die Erfahrung in der Arbeit mit inneren Kritikern/innen. In der Inneren Friedenskonferenz geht es immer wieder um die Wertschätzung der inneren Anteile, auch des inneren Kritikers/der inneren Kritikerin und es geht darum, mit dieser Seite in uns immer wieder von neuem in einen Dialog zu gehen und mit ihr zu verhandeln, damit Raum entsteht für andere, gegenpolige Anteile.

Ein weiterer Schritt im Prozess der Inneren Friedenskonferenz besteht darin, die Anteile in uns zu stärken, die einen Gegenpool zum inneren Kritiker/in bilden. Ein wichtiger Gegenpool ist beispielsweise die Seite in uns, die uns selbst Mitgefühl zu geben vermag. Sie sorgt dafür, dass wir mitfühlend mit uns selbst umgehen und kann durch die Metta-Meditation verstärkt werden.
Davon handelt der nächste Blogbeitrag.

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