Lawrence Kohlberg

Lawrence Kohlberg (1927-1987) war Entwicklungspsychologe und Professor für Erziehungswissenschaften an der Harward Universität. 1958 begann er mit Längsschnitt- und interkulturellen Studien über die Moralentwicklung, d. h. er untersuchte Menschen über Jahre hinweg bezüglich ihrer Moralentwicklung in unterschiedlichsten Kulturen.
Seit 1973 hat Kohlberg auch über mystisch-religiöse, metaphysische Erfahrungsformen nachgedacht und diese in sein Konzept der Moralentwicklung integriert.[1. Siehe: Kohlberg, Lawrance/Ryncarz, Robert: Beyond Justice Reasoning: Moral Development and Consideration of a Seventh Stage, in: Alexander, Charles N. und Langer Ellen J. (Hg.), Higher Stages of Human Development, New York: Oxford University Press 1990, 191-207.]
Kohlberg unterscheidet sechs Stufen des moralischen Urteilens und eine sog. “7. metaphorische Stufe”.
Moralisches Urteilen ist für ihn ein vorwiegend kognitiver Prozess. Allein die späteste Entwicklungsstufe ist nicht kognitiv. Es handelt sich vielmehr um ein mystisches Erlebnis, bei dem der Mensch sein Ego transzendiert in Richtung einer non-dualen Erfahrung. Dieses nicht-sprachliche Erlebnis muss nach Kohlberg jedoch kognitiv gedeutet werden, damit es dem Leben Sinn, Orientierung, einen Wert und eine moralische Richtung gibt, im Sinne eines höheren, ewigen, natürlichen Rechts. 

Stufen der Moralentwicklung

Stufen des moralischen Urteilens nach Kohlberg

Wenn Babies das Licht der Welt erblicken, haben sie bestimmte existenzielle körperliche und zwischenmenschliche Grundbedürfnisse. Wenn diese Grundbedürfnisse wie etwa in den Arm genommen werden, gefüttert werden, gespiegelt werden etc., erfüllt werden, dann fühlt sich das Kind geborgen und sicher. Solche Verhaltensweisen fühlen sich für das Kind passend und richtig an. Und schon im vorsprachlichen Alter können Kinder “richtiges”, belohnenswertes Verhalten, von “falschem” Verhalten, auch wenn sie es bei anderen sehen, unterscheiden. Das sind Ergebnisse der neusten Forschung. Ein kurzer Filmbeitrag dazu aus der New York Times…

Kohlberg untersuchte die verbalen Stufen moralischer Urteile von Kindern und Erwachsenen. Die erste Stufe in der Kindlichen Entwicklung moralischer Urteile nennt Lawrence Kohlberg

Stufe 1. Die Stufe von Strafe und Gehorsam

Inhalt
Rechtes Handeln heißt für das Kind, wortwörtlich Regeln und Autoritäten zu gehorchen, Bestrafung zu vermeiden und keinen physischen Schaden anzurichten. Kinder sagen beispielsweise: “Du musst das so und so machen, Mammi hat das gesagt!”

Soziale Perspektive
Egozentrischer Blickwinkel. Ein Kind oder eine erwachsene Person dieser Stufe erwägt weder die Interessen anderer noch bemerkt sie, dass Interessenunterschiede bestehen.

Heute wissen wir, dass diese Sichtweise einseitig ist. Empathisches Verhalten, das die Grundlage von Mitgefühl und altruistischen Verhaltensweisen ist, lässt sich auch schon sehr früh bei Kindern beobachten. Kleine Kinder sind nicht radikale Egoisten. Sie können sehr prosozial und hilfreich sein. Empathie ist eine Veranlagung, die sich schon früh zeigt und die unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Das haben neuere Studien eindrücklich bewiesen. (Siehe dazu hier.) Kohlberg hat die Empathie bei der Entwicklung moralischen Urteilens unterschätzt. [2. Siehe hierzu, statt vieler: Martin L. Hoffman: Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice, Cambridge 2000.]

Richtig ist jedoch, dass kleine Kinder das Verhalten Erwachsener oder älterer Kinder, deren Kritik, Ermahnungen und deren psychisch oder physisch strafendes Verhalten sehr oft auf sich selbst als Person beziehen und insofern egozentrisch reagieren. Verbale, psychische oder physische Gewalt, die als strafendes Verhalten als Erziehungsmethode verwendet wird, um Kindern den Unterschied zwischen gut und böse beizubringen, kann narzistische Kränkungen und gewaltsames Verhalten von Kindern fördern und ist kein gutes Erziehungsmittel.
Machtausübendes Verhalten, eine feindselige Grundeinstellung gegenüber den Kindern und  Strafe durch Liebesentzug verhindern eher die Internalisierung von moralischen Normen oder führen zu  ängstlich‐rigiden Moralvorstellungen.

Stufe 2. Die Stufe des individuellen instrumentellen Zwecks und Austauschs

Inhalt
Rechtes Handeln bedeutet, seine eigenen Bedürfnissen oder denjenigen einer anderen Person zu befriedigen und fair zu handeln im Sinne konkreter Tauschgeschäfte. Urteilt nach dem Muster: „Jedem das Seine“, „Wie Du mir, so ich Dir“.

Soziale Perspektive
Konkrete individualistische Perspektive. Eine Person dieser Stufe unterscheidet ihre eigenen Interessen und Gesichtspunkte von denjenigen anderer Personen und Autoritäten. Er oder sie ist sich bewusst, dass jeder Mensch individuelle Interessen verfolgt und dass diese widersprüchlich sind, so dass Recht (im konkreten individualistischen Sinne) relativ ist. Instrumenteller Austausch von Gefälligkeiten.

Nicht nur kleine und grosse Menschen, sondern auch Fledermäuse, Fische, Vögel, Säugetiere und Primaten beherrschen diese Form der Moral, sowohl unter sich (der eigenen Art), als auch zwischen den Arten, wie der folgende Filmbeitrag deutlich macht.

Stufe 3. Die Stufe wechselseitiger zwischenmenschlicher Erwartungen, Beziehungen und Konformität

Inhalt
Rechtes Handeln heißt, eine gute (nette) Rolle zu spielen, sich für die anderen Menschen und ihre Gefühle zu interessieren, Partnern Vertrauen zu schenken, Beziehungen zu pflegen und treu zu sein und motiviert zu sein, Regeln und Erwartungen zu folgen. Vertrauen schenken, loyal sein, Respekt und Dankbarkeit empfinden.

Soziale Perspektive
Diese Stufe beinhaltet die Perspektive des Einzelnen in Beziehung zu anderen. Eine Person dieser Stufe ist sich gemeinsamer Gefühle, Übereinkünfte und Erwartungen bewusst, die den Vorrang vor individuellen Interessen erhalten. Mittels der „konkreten Goldenen Regel“ (Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.) bringt sie unterschiedliche Standpunkte miteinander in Beziehung, indem er sich in die Lage des jeweils anderen versetzt.

Primaten verhalten sich teilweise ähnlich, wenngleich ihr Verhalten nicht so sehr kognitiv gesteuert ist, sondern vielmehr von moralischen Gefühlen wie Empathie, Mitgefühl sowie von sozialem Druck und einem Sinn für Fairness geprägt ist. Höhere Primaten zeigen überdies absichtliche, gezielte Hilfe. Hierzu den folgenden Vortrag von Frans de Waal.

Stufe 4. Die Stufe des sozialen Systems und der Wahrung des Gewissens

Inhalt
Rechtes Handeln bedeutet, seine Pflichten in der Gesellschaft zu erfüllen, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten und das Wohlergehen der Gesellschaft oder Gruppe zu bewahren.

Soziale Perspektive
Auf dieser Stufe wird unterschieden zwischen dem gesellschaftlichen Standpunkt und dem Gesichtspunkt zwischenmenschlicher Übereinkünfte oder Motive. Eine Person dieser Stufe übernimmt den Standpunkt des Systems, welches Rollen und Regeln festlegt. Er oder sie betrachten individuelle Beziehungen hinsichtlich ihres Ortes im System.

Stufe 4 1/2. Übergangsstufe 

Inhalt
Auf Stufe 4½  ist die Auswahl persönlich und subjektiv. Sie basiert auf Emotionen, das Gewissen wird, ebenso wie Ideen wie „Pflicht“ und „moralisch richtig“, als willkürlich und relativ aufgefasst. Moralischer Relativismus.

Soziale Perspektive
Die Perspektive dieser Stufe ist diejenigen eines Einzelnen, der außerhalb seiner eigenen Gesellschaft steht und sich selbst als Individuum betrachtet, welches Entscheidungen fällt, ohne eine verallgemeinernde Verpflichtung oder Kontakt mit der Gesellschaft. Man kann Verpflichtungen auswählen und übernehmen, welche durch individuelle Gesellschaften geprägt sind, ohne dieser Wahl ein Prinzip zugrunde zu legen.

Auf den weiteren, post-konventionellen Ebenen, werden moralische Entscheidungen durch Rechte, Werte oder Prinzipien hervorgebracht, mit welchen alle Individuen, die eine Gesellschaft mit fairen und nützlichen Praktiken ausmachen, einverstanden sind (sein könnten).

Stufe 5. Die Stufe der Vorzugsrechte und des Sozialvertrags oder der Nützlichkeit

Inhalt
Rechtes Handeln wird bestätigt durch die Grundrechte, Werte und rechtlichen Verträge einer Gesellschaft, selbst wenn sie mit konkreten Regeln und Gesetzen der Gruppe in Konflikt stehen. „Gerechtigkeit bedeutet, dass Menschen ihre fundamentalen Rechte wahrnehmen können, unabhängig von der Meinung der Mehrheit.“

Soziale Perspektive
Diese Stufe beinhaltet eine der Gesellschaft vorgeordnete Perspektive und zwar diejenige eines rationalen Individuums, das sich der Existenz von Werten und Rechten bewusst ist, die sozialen Bindungen und Verträgen vorgeordnet sind. Die Person integriert unterschiedliche Perspektiven durch die formalen Mechanismen der Übereinkunft, des Vertrags, der Unvoreingenommenheit und der angemessenen Veränderung. Er oder sie ziehen sowohl moralische wie juristische Gesichtspunkte in Betracht, anerkennen, dass sie einander gelegentlich widersprechen und finden es schwierig, sie zu integrieren.

Stufe 6. Die Stufe universaler ethischer Prinzipien

Inhalt
Auf dieser Stufe geht man von der Voraussetzung universaler ethischer Prinzipien aus, welcher die ganze Menschheit folgen sollte. Der Grund, das Rechte zu tun liegt darin, dass man als rationales Wesen die Gültigkeit jener Prinzipien einsehen kann und sich ihnen anvertraut. Wenn Gesetze gegen diese Prinzipien verstossen, dann handelt man in Übereinstimmung mit dem Prinzip.

Soziale Perspektive
Diese Stufe beinhaltet die Perspektive eines moralischen Gesichtspunktes, von dem aus sich gesellschaftliche Ordnungen herleiten oder in dem sie gründen. Es ist dies die Perspektive eines jeden rationalen Individuums, das das Wesen der Moralität oder die grundlegende moralische Prämisse erkennt: andere Menschen als (Selbst-)Zweck und niemals als Mittel zu behandeln.

7. Stufe der Non-Dualität

Selbst wenn man Stufe 6 und ein klares Bewusstsein universaler Prinzipien erreicht hat, bleibt eine fundamentale ethische Frage übrig, nämlich, „Warum soll man in einem Universum, das uns so ungerecht erscheint, moralisch gut handeln?“ Unterstützt die Realität oder die Natur in irgend einem Sinne menschliches Handeln gemäss universaler Prinzipien der Moral? Dies ist natürlich eines der Probleme, welches auf der Stufe des transitorischen Relativismus (der Stufe 4 1/2) für unbeantwortbar gehalten wird. Die Antwort von Stufe 5, die Begründung durch den Sozialkontrakt, d.h. dass ich mein eigenes Glück mit Hilfe der Gesellschaft oder mit Rücksicht auf die Rechte und das Wohlergehen anderer verfolge, ist im Wesentlichen ein Kompromiss. Obwohl der Rückgriff auf ethische Prinzipien auf der 6. Stufe eine bessere Lösung des Problems der Relativität von Werten bietet als die Antwort von Stufe 5, besteht auf der 6. Stufe eine vergleichsweise unbefriedigendere Lösung der Frage, „warum sollen wir moralisch handeln?“ Die Antwort auf diese Frage enthält die weitere Frage: „Wozu sollen wir leben?“ Folglich erfordert endgültige moralische Reife eine reife Lösung der Frage nach der Bedeutung des Lebens schlechthin. Dies ist dann per se keine moralische Fragestellung mehr, sondern eine Seins-Frage. Diese Frage gehört weder in den Bereich der Moral, noch lässt sie sich, wie moralische Fragestellungen, durch pure Logik und die Angabe rein rationaler Gründe beantworten. Um trotzdem eine auf eine sinnvolle Lösung dieser Fragen hinweisen zu können, die mit den rationalen Wissenschaften und der rationalen Ethik vereinbar ist, hat Kohlberg den, wie er sagt, “metaphorischen Begriff einer 7. Stufe postuliert”. Die Lösungen der Stufe 7 beinhalten als zentrales Charakteristikum die Erfahrung einer nicht-egoistischen oder nicht-dualistischen Vielfalt. Kohlberg verweist in diesem Zusammenhang auf Fowlers Untersuchungen zur Entwicklung des Glaubens (Siehe dazu hier).

Kohlberg schreibt: “Das Wesen solcher Erfahrungen liegt im Gefühl ein Teil des Lebensganzen zu sein und der Annahme einer kosmischen Perspektive – im Gegensatz zur rein humanistischen Perspektive (auf Stufe 6).”

Und er schreibt weiter: “Entsprechend vielen Beschreibungen in religiösen und metaphysischen Texten, beginnt die Entwicklung in Richtung einer kosmischen Perspektive oft mit einer Erfahrung der Verzweiflung. Dieser Zustand kann erst eintreten, wenn wir die Endlichkeit unseres Lebens vom Gesichtspunkt der Unendlichkeit her betrachten. Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens stellt sich unter diesem Gesichtspunkt dar als Frage nach dem Sinn der Endlichkeit aus der Perspektive der Unendlichkeit. Die Lösung dieses Zustands auf Stufe 7 besteht in der Fortführung der Übernahme einer kosmischen Perspektive. In gewissem Sinne verkörpert dieser Prozess ein Wechsel Figur und Hintergrund. Wir sind das Selbst, welches aus der Distanz des Kosmischen oder Unendlichen gesehen wird. Im Geisteszustand, den ich metaphorisch als Stufe 7 bezeichne, identifizieren wir uns mit der kosmischen oder unendlichen Perspektive und bewerten das Leben von diesem Standpunkt aus. Spinoza, der sowohl an eine Prinzipienethik wie auch an eine Wissenschaft der Naturgesetze (science of natural law)  glaubte, beschrieb diesen Geisteszustand als die „Einheit des Geistes mit dem Ganzen der Natur“. Sogar nichtreligiöse Menschen können in gewissen Situationen zeitweise diesen Geisteszustand erreichen, wenn sie beispielsweise auf einem Berg stehen oder das Meer betrachten. In solchen Momenten wird das, was normalerweise Hintergrund ist, zum Vordergrund und das Selbst ist nicht länger die Figur auf dem Hintergrund. Wir fühlen die Einheit des Ganzen und uns selbst als Teil dieser Einheit. Diese Erfahrung der Einheit, welche oft als Ansturm eines mystischen Gefühls beschrieben wird, steht in Verbindung mit einer Überzeugungsstruktur.
Die Umkehrung von Figur und Hintergrund, die in kontemplativen Augenblicken empfunden wird, entspricht der Entwicklung des Glaubens. Diese Entwicklung besitzt gewisse Paralellen zur Entwicklung moralischen Denkens. Die Relativismuskriese des Jugendlichen auf Stufe 4 1/2 kann nur auftreten, weil eine schwache Ahnung des Bestehens universaler ethischer Normen vorhanden ist, in deren Licht die von der Kultur vorgegebenen Werte und Normen relativ und zufällig erscheinen. Das vollständige Durchleben der Relativismuskrise bedeutet eine Dezentrierung vom eigenen Selbst, wobei sich das Verhältnis von Figur und Hintergrund umkehrt und der vage Standpunkt ethischer Prinzipien, welcher zunächst den Hintergrund des Gefühls der Relativität ausmacht, in den Vordergrund tritt. Ähnlich lässt sich argumentieren, dass sich die Relativismuskriese durch die Anerkennung der eigenen Endlichkeit von der Perspektive der Unendlichkeit her beschleunigt oder vertieft. Wer sich mutig darauf einlässt, dem offenbart sich durch den Wechsel von Figur und Hintergrund der positive Wert der kosmischen Perspektive, der diesem Wechsel immanent ist.”

Marcus Aurelius, Spinoza, Martin Luther King sowie Thomas von Aquin führt Kohlberg als Belege an, die selbst solche nicht-dualen Erfahrungen gemacht haben und diese auf eine bestimmte Art und Weise reflektiert hätten. Sie haben daraus ein ewiges und natürliches Recht abgeleitet, aus dem sie ihren Lebenssinn, ihre Zivilcourage, ihr Engagement und ihr moralisches Handeln legitimiert hätten.

Mir scheint, Kohlberg verkennt hier die Bedeutung  spiritueller Traditionen, denen es gerade darum geht, eine solche kosmische Perspektive zu kultivieren. Und er verkennt die Bedeutung von Empathie und Mitgefühl, die den Kern spiritueller Traditionen ausmachen und die altruistisches Handeln motivieren.

 

 

 

 

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