Autor: Peter Widmer

Zen, Metta und der Ukrainekrieg

Wie kann mir Zen und Metta helfen? fragte mich ein verzweifelter junger Mann aus der Ukraine im Einzelgespräch, dessen Eltern und Geschwister inmitten des Krieges leben.
Millionen von Menschen leiden durch diesen Krieg. Als Beobachtende und Helfende leiden mir mit ihnen mit. Eine kollektive Traumatisierung findet statt, die sich auf unsere Zukunft auswirkt. Unsere Stresslevel schaukeln sich inmitten der Coronaverschnaufpause weiter auf. Wie kann uns Zen helfen, inneren Frieden zu finden und uns mitfühlend zu engagieren, ohne durch die erlebte Ohnmacht und Hilflosigkeit depressiv zu werden, emotional auszubrennen, in Apathie und Gleichgültigkeit zu verfallen oder in Gewaltfantasien steckenzubleiben? Davon handelt dieser Blogbeitrag.

Zum Umgang mit Ohnmacht und Hilflosigkeit

Alles ist vergänglich und alle Lebewesen sind verletzlich. Diesen Tatsachen des Lebens werden wir zurzeit mehr inne, als uns lieb ist. Wir erleben die kollektiven Traumata dieses Krieges hautnah mit, wenn wir uns emotional betreffen lassen, innerlich mitgehen und empfinden Gefühle wie Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, Verzweiflung.

Menschen sind verschieden und gehen unterschiedlich mit solchen Gefühlen um. Viele orientieren sich in den Medien darüber, was gerade geschieht, gehen emotional mit, eignen sich gedanklich und in Bildern die Hypothesen darüber an, wie es zu diesem Krieg kam und was alles daraus folgen könnte. Viele suchen so nach einer Erklärung und wollen Verstehen, um sich zu beruhigen. Es gibt Menschen, die sich in Kathastrophenphantasien über die Zukunft verlieren und sich immer hilfloser fühlen. Die schrecklichen Bilder und Berichte können uns in unseren Träumen verfolgen. Viele helfen, sei es mit Spenden, demonstrieren für den Frieden oder helfen aktiv, um aus ihren Gefühlen der Hilflosigkeit heraus zu kommen. Manche wenden sich bewusst ab von den vielen Informationen, um nicht von Gefühlen der Ohnmacht erdrückt zu werden. Wieder andere werden innerlich aggressiv gegenüber den russischen Aggressoren. Diese aggressive innere Haltung kann sich, ebenso wie die depressive Verstimmung durch Kathastrophenphantasien, auf unseren Alltag und zwischenmenschliche Interaktionen übertragen. Denn die Menschen um uns herum schwingen emotional mit uns mit, ebenso wie wir mit den Menschen der Ukraine und ihren Gefühlen und inneren Haltungen emotional in Resonanz gehen. So entsteht ein gesellschaftliches Feld von Emotionen und entsprechenden Handlungsdispositionen.
Durch die Informationsflut besteht die Gefahr, emotional auszubrennen, was zur Folge hat, dass sich Menschen zurückziehen, abschotten gegen Informationen und in Apathie und Gleichgültigkeit verfallen. Einige werden zynisch. Oft versiegt daher im Laufe der Zeit auch das Mediale Interesse an solchen Konflikten und das Mitgefühl mit den Opfern. Die Gefahr besteht, sich zunehmend mit den Tätern zu identifizieren.

All diese Lösungsversuche sind für sich zunächst einmal vollkommen berechtigt und in Ordnung. Es sind versuche, die erlebte Ohnmacht zu bewältigen, aus der Hilflosigkeit herauszukommen, um den eigenen, ohnehin stressreichen Alltag gelingend bewältigen zu können.

Doch Mitgefühl für die Opfer entsteht nur aus dem Offenbleiben und persönlichen sich betreffen lassen, ebenso wie das aktive Sich Empören in Gedanken, Worten und Taten gegenüber Putins Krieg gegen Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und eine offene Gesellschaft. Mitgefühl und aktive Empörung sind wichtig, damit äusserer Friede gelingend gestaltet werden kann!

Offenheit und Mitgefühl durch Zen und Mettameditation

In der Stille des Zen ist alles willkommen, so wie es gerade ist, ob angenehm, glückbringend oder unangenehm, verzweifelnd. Alle sechs Fenster unseres Hauses des Bewusstseins, d. h. alle sechs Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Körperempfindungen und das Denken) sind offen. Sämtliche Gäste, die kommen wollen, sind herzlich willkommen. Und wir schenken ihnen keinen Tee ein, laden sie nicht zum Bleiben ein. Sondern sind dessen gewahr, wie sie entstehen, ihren Zenit erreichen und wieder vergehen. Zen ist die Kultivierung unbegrenzter Offenheit gegenüber allem, was ist. Wenn es uns gelingt, diese innere Stille in den Alltag mitzunehmen, ist alles, so wie es ist, akzeptiert. Aus dieser grundlegenden inneren Akzeptanz können wir mit dem sein, was gerade ist. Es ist, wie es ist.

Gleichzeitig können wir erkennen, welche inneren Zustände für uns, andere und die Welt heilsam sind und welche unheilsam. Innere Haltungen wie Gier nach Macht, Einfluss, Reichtum, etc., Hass und der Wille zu Zerstören, Unwissenheit und Verblendung durch bewusstes Täuschen und Lüge führen zu entsprechenden Handlungen, d. h. zu entsprechenden zwischenmenschlichen Interaktionen, die von Misstrauen, Missgunst und Kriegen geprägt sind.
Ebenso führt die Kultivierung innerer Haltungen wie grenzenlose Offenheit, liebende Güte, Wohlwollen, Gelassenheit, Freude, Mitfreude und Mitgefühl zu wertschätzenden, konstruktiven zwischenmenschlichen Wechselwirkungen, die von Vertrauen und Verbundenheit geprägt sind.
Friede in der Welt kann nur entstehen, wenn innerer Friede in unseren Herzen wohnt. Das war schon immer so. Wie könnte es heute anders sein! Es sind unsere inneren Haltungen, die letztlich den Ausgangspunkt für eine friedlichere Welt bilden. Innere Haltungen sind trainierbar, kultivierbar in der Meditation! Da, wo unsere Achtsamkeit hin geht und sich verankert, diese Fähigkeit wächst und wird stärker. Heilsame innere Haltungen bedürfen einer mentalen Anstrengung. Daher ist die oberste Tugend im Buddhismus “rechtes Bemühen”.

Pazifismus und Krieg – der Mittlere Weg

Wo Schönheit ist, dann ist da auch Hässlichkeit.
Wo Richtig ist, da gibt es auch Falsch.
Wissen und Unwissenheit sind voneinander abhängig.
Verblendung und Erleuchtung bedingen einander.
Von Altersher war dies immer schon so.
Wie könnte es heute anders sein?
Im Versuch, das eine loszuwerden, um das andere zu bekommen
durchschaust Du schliesslich Deine Dummheit.
Selbst wennn Du vom “Wunder des Ganzen” sprichst,
wie gehst Du damit um, dass jedes Einzelne sich verändert?

Ryokan

Im modernen, von westlichen Werten beeinflussten Buddhismus, wurde in den vergangenen Jahren häufig eine radikal pazifistische Haltung vertreten: “Pazifismus um jeden Preis!” Doch wenn es Krieg gibt, wird der Pazifismus angeklagt, dass er der heimliche Helfer der Aggressoren ist: “Mit denen kann man alles machen!” – und dass er gerade nicht dazu führt, dass skrupellose Aggressoren einseitig nachgeben, insbesondere wenn sie merken, dass sie mit Leichtigkeit bekommen, was sie wollen. “Hat alles nicht geklappt, bringt doch nichts, jetzt wieder der Normalfall der Weltgeschichte! Wir brauchen Waffen!” – lautet der Rückfall ins andere Extrem.

Machtspiele lassen sich nicht einseitig beenden, weder zwischen einzelnen Menschen, noch zwischen Staaten. Denn Menschen sind prinzipiell frei, sich so zu verhalten, wie sie es für richtig erachten. Sie können zu nichts gebracht oder gezwungen werden, zuweilen sogar nicht einmal mit Drohungen, Sanktionen, Desinformation und Gewalt. Eine friedliche Welt kann weder ausschliesslich mit pazifistischen Mitteln, noch ausschliesslich mit militärischen, kriegerischen Mitteln erreicht werden. Es gibt auch ein beherztes, zupackendes Mitgefühl, bei dem Menschen sich mit Sanktionen und vielleicht auch mit kriegerischen Mitteln für die Einhaltung von errungenen Werten einstehen. Friede ist keine Selbstverständlichkeit, die sich automatisch herstellt. Er beginnt in den Herzen von uns Menschen. Er muss aus freien Stücken aktiv gewollt werden. Dazu braucht es Einsicht und rechtes Bemühen. Ebenso muss der äussere Friede und eine offene Gesellschaft, in der Menschenrechte geschützt werden, als sinnvoll erkannt und aktiv gestiftet werden, was manchmal erfordert, dass diese Werte militärisch geschützt werden müssen, wenn sich unsere Welt wirklich in eine offenere, freiere, tolerantere, zukunftsfähigere Welt entwickeln soll.

Anregend in diesem Zusammenhang finde ich die Diskussion über Pazifismus und Krieg im Philosophischen Stammtisch von Sternstunde Philosophie von SRF Kultur vom 21.3.2022.

Sehr spannend finde ich die Einschätzung des ehemaligen parteilosen Bundespräsidenten Deutschlands, Joachim Gauck (Jg.1940) vom 13. Juli 2022 im Interview mit Markus Lanz, zumal Gauck in der DDR grossgeworden ist und sich sowohl als Theologe, als auch als Abgeordneter der Volkskammer der DDR und später als Journalist intensiv mit dem Marxismus-Leninismus und als Beauftragter für die Stasi-Unterlagen nach der Deutschen Wiedervereinigung ausführlich mit dem ehemaligen Geheimdienst der DDR auseinandergesetzt hat. Auch Gauck lehnt eine Pazifistische Haltung entschieden ab.

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