Autor: Peter Widmer

Teilearbeit & Meditation für eine globalisierte Welt


Prof. Dr. Tania Singer (Direktorin der Abteilung für Soziale Neurowissenschaft am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig) im Gespräch mit Gert Scobel

Mitgefühl lässt sich trainieren! Das von Tania Singer initiierte ReSource-Projekt am Max Plank Institut in Leipzig ist die umfangreichste und längste Meditationsstudie, die es bisher gegeben hat. Tania Singer hat in dieser Studie verschiedene Meditationsarten miteinander verglichen, um zu erkennen, welche wie wirkt. Sie wollte herausfinden, wie sich neben Achtsamkeit auch Mitgefühl, Perspektivenübernahme und eine universalistische ethische Haltung  am besten schulen lassen. Die ersten Resultate liegen nun vor. [1. Siehe: Bethany E. Kok, Tania Singer: Effects of Contemplative Dyads on Engagement and Perceived Social Connectedness Over 9 Months of Mental Training. A Randomized Clinical Trial, in: JAMA Psychiatry. 2017;74(2):126-134. doi:10.1001/jamapsychiatry.2016.3360. Sowie: Sofie L. Valk, Boris C. Bernhardt, Fynn-Mathis Trautwein, Anne Böckler, Philipp Kanske, Nicolas Guizard, D. Louis Collins, Tania Singer: Structural plasticity of the social brain: Differential change after socio-affective and cognitive mental training, in: Science Advances (2017) DOI: 10.1126/sciadv.1700489. Sowie: V. Engert, B. E. Kok, I. Papassotiriou, G. P. Chrousos, & T. Singer: Specific reduction in cortisol stress reactivity after social but not attention-based mental training, in: Science Advances (2017) DOI: 10.1126/sciadv.1700495; Tania Singer und ihre Mitarbeiter haben zudem dieses frei herunterladbare E-book zum Thema “Compassion” verfasst.]
Interessanterweise wurde in dieser Studie Teilpersönlichkeitsarbeit –  Innere Friedenskonferenz – mit Meditationspraktiken verwoben. Tania Singer weist nach, wie wirkungsvoll diese Komination Basisfähigkeiten sozialer Intelligenz, die zentral sind für eine globalisierte Welt, fördern kann. Die Resultate dieser Studie zeigen eindringlich, dass es ein Erfordernis unserer Zeit ist, Zen mit Teilearbeit und Mettameditation zu verbinden, wie ich das schon seit einiger Zeit in meinen Kursen und Seminaren anbiete.

Wichtige Ergebnisse der Studie

  1. Atemmeditation und Bodyscan reduzieren zwar generell Stress in allen Lebenssituationen, doch sie sind nicht so wirkungsvoll bei sozialem Stress, wie die Übungen der affektiven und gedanklichen Perspektivenübernahme. Mit anderen Worten: Teilearbeit zu zweit in einer meditativen Haltung kombiniert mit meditativen Übungen ist das Element, welches sozialen Stress am wirkungsvollsten reduziert.
  2. Gedankliche Perspektivenübernahme in Meditation (sich in eine Teilpersönlichkeit von sich selbst oder/und einer anderen Person zu versetzen) und achtsames Zuhören den Äusserungen einer Teilpersönlichkeit einer anderen Person, fördern die Fähigkeit, sich selbst und andere gedanklich zu verstehen. Das kortikale (“Theory of Mind” oder “Mentalizing”) Netzwerk im Gehirn für gedankliche Rollen-/Perspektivenübernahme verdickt sich durch diese Übungen, insbesondere der parietale präfrontale Kortex.
  3. Affektiv-emotionale Perspektivenübernahme mit einem unangenehmen und einem angenehmen Erlebnis in einem Zweiergespräch, kombiniert mit Metta/karuna-Meditation (liebevolle Güte/Mitgefühlsmeditation) fördern die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen. Das limbische und paralimbische Netzwerk für Mitgefühl, Fürsorge und prosoziale Motivation im Gehirn verdickt sich durch solche Übungen. Dieses Netzwerk ist grundlegend für Vertrauen und Altruismus. Dabei werden u. a. Oxytocin und Opiate im Gehirn ausgeschüttet, die zentral sind für soziales Verhalten und gelingende zwischenmenschliche Wechselwirkungen.

Die bisher umfangreichste Meditationsstudie

241 Meditationsanfänger und zwei Kontrollgruppen von insgesamt 90 Personen, die nicht meditiert haben, wurden miteinander verglichen. Pro Teilnehmer wurden 90 verschiedene Masse zur Erfassung von Genetik, Hormonen, Stress, Gehirn, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten, Persönlichkeit und Verhalten erhoben. Sie dauerte 9 Monate und die Teilnehmenden mussten täglich üben. Es gab wöchentliche Gruppentreffen und drei Wochenendretreats sowie Nachuntersuchungen vier und zehn Monate später. Beteiligt waren 17 Meditationslehrer, mehr als 20 wissenschaftliche Mitarbeiter und mehr als zehn Forschungsassistenten und Projektkoordinatoren.

Das Forschungsdesign

Tania Singer und ihr Team entwickelten drei Module, welche die verschiedenen Probandengruppen in unterschiedlicher Reihenfolge durchliefen. Jedes Modul dauerte 3 Monate, insgesamt also 9 Monate für jede Gruppe. Die drei Übungsmodule entsprechen drei unterschiedlichen neuronalen Netzwerken: 1. dem Netzwerk für Aufmerksamkeitslenkung und Präsenz, 2. dem Netzwerk für Metakognition, gedankliche Rollen-/Perspektivenübernahme und 3. dem Netzwerk für prosoziale Motivation/Empathie und Mitgefühl.

3 Module: Präsenz, Perspektive, Affekt

  1. Präsenzmodul

Dieses Modul schult die Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Körpergewahrsein und besteht aus den zwei klassischen Meditationsübungen: Erstens Achtsamkeit auf den Atem, wie man sie z. B. im Zen, aber auch in der frühbuddhistischen Tradition sowie in der Tibetischen Shamatapraxis der Dzogchenlinie findet. Jon Kabat Zinn hat dieses Übungselement in sein Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) Programm mit aufgenommen. Bei dieser Meditationsweise ruht die Aufmerksamkeit im Atem und sobald Gedanken und Gefühle auftauchen, wird die Konzentration wieder sanft auf die Atmung zurückgelenkt. Dauer: 10 Min. pro Tag.
Zweitens wurde der klassische Bodyscan, d. h. das sog. Durchkehren des Körpers praktiziert. Dabei wandert die Aufmerksamkeit nach und nach durch alle Körperteile, angefangen bei den Zehen des linken Fusses bis zum Scheitel. Diese Praxis heisst traditionell “Vipassanameditation” und wird im traditionellen Thearavada, resp. Frühbuddhismus praktiziert. Jon Kabat Zinn hat auch dieses Übungselement in sein Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) Programm integriert. Oft wird auch im Yoga eine solche Übung in schnellerem Tempo durchgeführt.
Dauer: 20 Min. pro Tag.

  1. Perspektiv-Modul

In diesem Modul ging es um die Schulung der sozio-kognitiven Fähigkeiten. Dabei lernten die Teilnehmenden, ihr eigenes Denken und Handeln zu beobachten und die Perspektiven anderer Menschen nachzuvollziehen.
Die erste Meditationsform heisst Gedankenmeditation. Dabei werden die Gedanken kategorisiert, etwa nach Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft, negativ/positiv, selbst/andere, ohne unmittelbar auf sie zu reagieren, aus einer innerlich distanzierten, beobachtenden Haltung (Zeugenbewusstsein oder reiner Beobachter). Zudem wurden auf diese Weise die vorhandenen Teilpersönlichkeiten erschlossen. Dauer: 20 Min. pro Tag.
Die Perspektiv-Dyade ist eine eigens für dieses Training konzipierte Meditationsform zu zweit. Dabei beschreibt ein Partner ein Alltagserlebnis aus einer seiner inneren Rollen oder Teilpersönlichkeiten heraus, der andere vollzieht die Erzählperspektive unvoreingenommen nach und spiegelt, was er gehört und wahrgenommen hat. Die Teilnehmenden machen sich in der meditativen Vorbereitung und im Dialog bewusst, dass sie verschiedene Persönlichkeitsanteile in sich tragen, eine „innere Familie“, ein „inneres Orchester“ von Teilpersönlichkeiten, z. B. das verspielte Kind, die Richterin, der strenge Lehrer, der Organisator, der Manager/die Managerin und sprechen dann aus diesen inneren Anteilen. Der Zuhörer bleibt unvoreingenommen in einer neutralen „Zeugen-“, resp. Beobachterrolle, ohne zu urteilen, Ratschläge zu erteilen oder zu bewerten. Der Zuhörende muss herausfinden, aus welcher inneren Teilpersönlichkeit der andere erzählt. Er oder sie versetzt sich innerlich in die Teilpersönlichkeit des Erzählenden, vollzieht sie innerlich nach und versucht, den anderen besser zu verstehen. Nach fünf Minuten ist Rollenwechsel.
Dauer: 10 Minuten pro Tag.

  1. Affektmodul

In diesem Modul ging es um die Stärkung von Mitgefühl, Dankbarkeit und Fürsorge durch die Schulung von Mitgefühl / liebevolle Güte sich selbst und anderen gegenüber. Auch dieses Modul bestand aus zwei Übungssequenzen: erstens, der klassischen Metta-Meditation (liebevolle Güte Meditation/Herzmeditation), wie man sie sowohl im Frühbuddhismus als auch in der Tibetischen Tradition praktiziert. Man beginnt mit der Vorstellung eines Wesens dem man mit liebender Güte/Mitgefühl begegnet, gibt sich selbst liebevolle Güte und erweitert den Radius dieses Wohlwollens zuerst auf nahe Freunde, Unbekannt, schwierige Mitmenschen und alle Lebewesen. Dauer: 20 Min. pro Tag.
Die zweite Meditationsform wurde für diese Studie neu entwickelt. Sie besteht in einer sog. meditativen Affekt-Dyade, d. h. eine Meditation zu zweit. Ein Partner beschreibt, wie er ein positives oder negatives Erlebnis emotional und körperlich empfunden hat, der andere hört aus einer meditativen Haltung achtsam und empathisch zu, d. h. ohne zu urteilen oder zu bewerten. Nach fünf Minuten tauschen beide ihre Rollen. Dauer: 10 Min. pro Tag.

Resultate im Einzelnen

Ähnlich, wie es beim Sport darauf ankommt, welche Muskeln man trainiert, zeigt diese Studie, dass die drei Module unterschiedliche Stärken trainieren, also verschiedene Fähigkeiten selektiv verbessern. Tanja Singer konnte in dieser Studie nachweisen, dass man nicht Tausende von Stunden meditieren muss, um messbare und nachweisbare neuronale Veränderungen, Veränderungen der inneren Haltung und des Verhaltens zu erzielen. Sie konnte vielmehr eindrucksvoll zeigen, dass die Grosshirnrinde auch bei Anfängern bereits nach drei Monaten Training dicker wird – und zwar jeweils in den Gehirnarealen, die in dieser Zeit besonders oft aktiviert wurden. Jedes Trainingsmodul verändert also andere synaptische Verbindungen im Gehirn. Wenn man sich jeden Tag innerlich auf Mitgefühl und Dankbarkeit ausrichtet, dann verändert sich dadurch nicht nur die innere Haltung und das äussere Verhalten, sondern auch das Gehirn – und zwar in denjenigen Netzwerken, welche diese sozio-emotionalen Prozesse verarbeiten. Während des Moduls „Perspektive“ verändern sich Regionen, die für die Perspektivenübernahme wichtig sind. Und diese Veränderungen fanden statt in Menschen, die im Schnitt über vierzig Jahre als waren, also bei Menschen in einem Alter, von dem man bisher annahm, die graue Gehirnsubstanz werde eher dünner und nicht dicker.
Wie lange die Effekte anhalten, muss noch ausgewertet werden.

Körpergewahrsein und das Bewusstwerden eigener Gefühle

In manchen Bereichen finden sich keine Unterschiede in den Trainingseffekten. So wurde das Körpergewahrsein bei allen Probanden von Monat zu Monat besser, egal, was sie gerade trainierten. Das Körpergewahrsein, d. h. das in Kontakt sein mit seinem Körper ist die Voraussetzung, um mit seinen Gefühlen in Kontakt zu sein, welche uns Informationen über uns selbst und unsere inneren Haltungen, als auch über innere Haltungen anderer vermitteln. Hier konnten die Forscher erst nach sechs Monaten nennenswerte, d.h. signifikante, messbare neuronale Veränderungen nachweisen. Letzteres erklärt, weshalb in MBSR-Studien – also nach einem 8-wöchigen MBSR-Training – bisher keine signifikanten Veränderungen festgestellt werden konnten. Mit anderen Worten: man muss länger meditieren, damit signifikante neuronale Veränderungen nachweisbar werden und damit die Körperwahrnehmung sich messbar verbessert.
Dieses Resultat legt nahe, dass nicht nur der Bodyscan, sondern jede Form der Meditation das Körpergewahrsein und somit auch den Zugang zu den Emotionen und der eigenen Innenwelt verbessert, also auch Zen-Meditation und andere Meditationsformen. Aus der Innenperspektive der persönlichen Meditationserfahrung ist es die Dauer und Intensität der Meditationspraxis, die einen verbesserten Zugang zum eigenen Körper, den eigenen Gefühlen und dem eigenen Innenleben verschafft.

Konzentrationsfähigkeit

Auch die Konzentrationsfähigkeit hat sich nicht nur nach dem Präsenzmodul deutlich gesteigert, sondern ebenso durch das Affektmodul. Denn es geht in beiden Modulen darum, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, einmal auf die Atmung, dann wiederum auf Gefühle und Gedanken.
Auch dieses Resultat lässt sich wohl verallgemeinern: welche Meditationspraxis auch immer geübt wird: Meditation bedeutet immer ein sich immer wieder von Neuem auf sein Meditationsobjekt ausrichten. Dies allein stärkt die Aufmerksamkeitsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit aktiv zu lenken. Bereits William James hatte unterschieden zwischen aktiver Aufmerksamkeitslenkung und passiver Aufmerksamkeit, die von den Objekten des Bewusstseins und der damit verbundenen emotionalen Energie angezogen wird. Meditation stärkt die aktive Aufmerksamkeitslenkung. Ob das Meditationsobjekt ein Zen-Koan, der Atem, ein Mantra, eine Visualisierung oder der Körper ist wie beim Bodyscan.

Sozialer Stress

Bereits in unzähligen Meditationsstudien konnte gezeigt werden, dass jegliche Form der stillen Meditation im Sitzen die Entspannungsantwort des Körpers, d. h. das parasympathische Nervensystem aktiviert, wodurch sich jeglicher Stress reduziert.
Tanja Singer und ihr Team haben unterschiedliche Formen von Stress untersucht, insbesondere auch sozialen Stress. Denn sozialer Stress ist Stressfaktor Nummer eins in unseren modernen Gesellschaften. Wir fürchten uns kaum noch vor Kälte und Hunger, sondern vor allem von anderen kritisiert zu werden und ihren Anforderungen und Wünschen nicht zu genügen. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist der soziale Stress am grössten auf der Gruppen- und Aufgabenzentrierten Entwicklungsstufe. (siehe dazu meinen Blogbeitrag hier)
Um die soziale Stressreaktion zu testen, mussten die Teilnehmenden der Studie vor streng blickenden Prüfern einen Bewerbungsvortrag halten und rückwärts rechnen. Diejenigen, die zuvor drei Monate meditiert hatten – und zwar ganz egal, was, – fühlten sich dabei weniger gestresst als die Teilnehmenden der Kontrollgruppe, die gar nicht meditierten. Dies ergaben Fragebögen, welche die subjektive Einschätzung der Teilnehmenden abfragten. Analoge Resultate aus der Meditationsforschung sind hinlänglich bekannt.
Das Team von Tania Singer prüfte jedoch zusätzlich das Blut auf das Stresshormon Cortisol, jeweils vor und nach den Bewerbungsvorträgen. Cortisol ist einer der bekanntesten Marker für eine soziale Stressreaktion. Bei jenen, die zuvor in den sozialen Modulen „Affekt“ und „Perspektive“ Mitgefühl und Perspektivenwechsel durch Teilearbeit trainiert hatten, war die hormonelle Stressreaktion im Vergleich zur Kontrollgruppe um rund 50% niedriger. Doch bei denen, die gerade das Modul „Präsenz“, also Atemmeditation und Bodyscan hinter sich hatten, war der Cortisolwert unverändert hoch. Das war eine Überraschung! Denn Achtsamkeitsübungen gelten als gutes Antistressmittel. Doch bei Meditationsanfängern nicht bei sozialem Stress. Bei Langzeit-Meditierenden ist hingegen bekannt, das die Cortisolwerte sich entsprechend der Meditationsdauer reduzieren. [1. Siehe hierzu beispielsweise der Vergleich von Lang- und Kurszzeitmeditierenden von: Brand S, Holsboer-Trachsler E, Naranjo J, R, Schmidt S: Influence of Mindfulness Practice on Cortisol and Sleep in Long-Term and Short-Term Meditators, in: Neuropsychobiology 2012:109-118]
Weshalb wirkten die Module „Perspektivenübernahme“ und „Affekt“ besser bei sozialem Stress, als das „Präsenzmodul“ mit der klassischen Achtsamkeit auf den Atem und dem Bodyscan?
Beim Präsenzmodul konzentrierten die Teilnehmenden sich nur auf sich selbst. Bei den beiden anderen sozialen Modulen hingegen, ging es um einen zwischenmenschlichen Austausch in „kontemplativen Dyaden“. Dabei meditiert ein Partner über eine bestimmte Frage und teilt danach dem Partner sehr Persönliches mit. Der zuhörende Partner hört empathisch und nicht-urteilend oder bewertend zu, ohne zu unterbrechen oder Ratschläge zu erteilen. Nach fünf Minuten wird jeweils getauscht. Die Teilnehmenden machen sich also verletzlich vor jemandem, den sie nicht kennen. Denn täglich wurde der Dyadenpartner gewechselt, so dass die Teilnehmenden jedes Mal jemand Unbekannten vor sich hatten. Denn es ging Tanja Singer um die Stärkung einer allgemeinen Mitmenschlichkeit. Zugleich übten sie urteilsfreies Zuhören. Und das über Monate. Tania Singer vermutet, dass diese Übungen sie ein Stück weit gegen sozialen Stress immunisiert hat, so dass sie bei dem Bewerbungsvortrag viel mehr in sich ruhten.

Es gibt auch traditionelle Meditationsformen, bei denen das „Wir“ geschult wird, wobei der Meditierende sich den oder die anderen jedoch nur vorstellt, was nicht jedem leicht fällt und Übung braucht. Tanja Singer und ihr Team schulten mit den Dyaden-Übungen hingegen den direkten, alltäglichen Umgang mit anderen. Die Teilnehmenden gingen in Teilpersönlichkeiten und offenbarten sich und lernten, sich von sich selbst in diesen Dialogen zu disidentifizieren. Und es ist in allen Therapieformen – auch in der Teilearbeit – bekannt, dass achtsames, empathisches Zuhören – ohne Ratschläge zu erteilen und Urteile zu fällen – akzeptierend wirkt. Die andere Person oder die Teilpersönlichkeit, aus der sie gerade spricht, fühlt sich dadurch wahrgenommen, akzeptiert so wie sie ist und gewertschätzt. Es entsteht eine vertrauensvolle Atmosphäre. Das reduziert sozialen Stress. Dadurch fühlten sich die Teilnehmenden generell anderen Menschen verbundener. Soziale Verbundenheit und Vertrauen kann also trainiert werden. Das ist insofern interessant, weil man aus Forschungen weiss, dass Menschen, die sich z. B. in Grossstädten isoliert und einsam fühlen, eher krank werden und eine kürzere Lebenserwartung haben.

Teilpersönlichkeiten in der Meditation trainieren

“Je mehr wir imstande sind unsere Teilpersönlichkeiten, die im Alltag aktiv sind, während der Meditation zu erkennen und zu wechseln, trainieren wir”, so Tania Singer, “unsere Ich-Flexibilität. Dadurch erkennen wir auch im Alltag leichter, durch welche „Anteils-Brille“ wir gerade schauen und können sie schneller wieder wechseln.” Die Studie zeigt: je genauer man seine inneren Haltungen, d. h. Seiten oder Teilpersönlichkeiten kennt, desto besser kann man sich in andere hineinversetzen. “Interessant ist,” sagt Tania Singer, “dass dieser Effekt dann besonders stark ist, wenn man sich und seinem Gegenüber auch die negativen oder verletzlichen Seiten eingesteht.”
Genau diese Erfahrungen machen auch diejenigen, die einen Zen & Innere Friedenskonferez Kurs besuchen. Entwicklungspsychologisch betrachtet hat diese grössere Flexibilität des Ich, von der Tania Singer spricht, etwas mit persönlicher Entwicklung zu tun. Je mehr Möglichkeiten wir haben unser Verhalten und unsere inneren Haltungen zu verändern, desto besser können wir mit der wachsenden Komplexität des Alltags umgehen und desto leichter fällt es uns, mit inneren und äusseren Widersprüchen konstruktiv umzugehen und mit mehr Leichtigkeit und Humor unseren Alltag zu meistern.

Ein Training für unsere globalisierte Welt

Unser Mitgefühl bezieht sich stark auf Menschen, die uns nahestehen, unsere Familie, die Verwandten, die Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, sei es die Schulklasse, die Abteilung, die Berufskollegen, der Fussballclub, die Partei, der Verein, etc. Das hat sich evolutionär entwickelt. In unserer globalisierten Welt müssen wir jedoch auch lernen, diejenigen zu akzeptieren und zu verstehen, die uns fremd sind, die andere religiöse oder politische Überzeugungen haben. Wir müssen also durch Teilearbeit beides trainieren. Mit dem Modul „Perspektive“  unsere Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen und mit dem Modul „Affekt“ unser Mitgefühl. Dabei sind im Gehirn unterschiedliche neuronale Netzwerke aktiv. Beides ist notwendig für gelingende zwischenmenschliche Wechselwirkungen in unserer globalisierten Welt. Ein solches Training, sagt Tania Singer, “schult die Baiskompetenzen, die jeder braucht, um ein verantwortungsvoller, toleranter Weltbürger zu sein”.
„Obwohl die Erforschung von der Trainier- und Veränderbarkeit des Gehirns, der sogenannten Plastizität des Gehirns, in den Neurowissenschaften schon immer eine zentrale Rolle spielte, wusste man bisher kaum etwas über die Plastizität des sozialen Gehirns”, erklärt Tania Singer. “Unsere Befunde zeigen nun eindrücklich, dass kurzes und gezieltes tägliches mentales Training bei erwachsenen Menschen noch strukturelle Veränderungen im Gehirn bewirken kann, und dies wiederum zur Steigerung der sozialen Intelligenz führt. Da Eigenschaften wie Empathie, Mitgefühl und Perspektivwechsel essenziell für gelungene soziale Interaktionen sowie Konfliktlösung und Kooperation sind, könnten diese Befunde eine hohe Relevanz für unser Bildungssystem haben.”

Siehe auch: Verlust und Wiedergewinnung von Mitgefühl

4 Antworten

  1. Vielen Dank für die Präsentation dieser hoch interessanten Studie und der Resultate. (Ich übe mich auch in der Meditation). – Überhaupt lese ich deine Newsletter immer mit grossem Interesse und Gewinn. Danke.

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