Autor: Peter Widmer

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Depression – bald Volkskrankheit Nummer zwei! Wie 2011 ein internationales Forscherteam um Evelyn Bromet von der State University of New York berichtete, sind weltweit 121 Millionen Menschen von Depressionen betroffen.[1. Siehe: Bromet E et al: Cross-national epidemiology of DSM‐IV major depressive episode, in: BMC Medicine 2011; volume 9:91.] In Europa sind 6.9% der Gesamtbevölkerung davon betroffen, das sind 30.3 Millionen Menschen![2. Siehe: Wittchen HU et al.: ECNP/EBC REPORT 2011 : The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010, in: European Neuropsychopharmacology (2011) 21, 655–679.] 2020 werden Depressionen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen,  gemäss statistischen Hochrechnungen, zu den zweithäufigsten Krankheiten in der entwickelten Welt gehören und voraussichtlich der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit sein. Angesichts dieser dramatischen Aussichten scheint es umso dringlicher, heute kostensparende, alternative Wege der Prävention und Behandlung von Depressionen (wieder) zu entdecken und mit bestehenden effizienten Behandlungsmöglichkeiten zu kombinieren.

Was charakterisiert Depressionen?

Pessimistische Gedankenzüge kennzeichnen Depressionen. Dabei kreisen oft unentwegt negative Gedanken um die eigene Person, andere Menschen, die Zukunft und die Vergangenheit. Schuldgefühle und Selbstvorwürfe sind oftmals nagend. Depressive sehen ihre Depression meist als persönliches Versagen. Das Leben erscheint sinnlos und die Hoffnung, wieder glücklich und gesund zu werden schwindet. Oft ist es für Depressive schwer, sich zu konzentrieren oder sich etwas zu merken. Eine Entscheidung zu fällen ist selbst bei einer einfachsten Auswahl schwierig, weil Betroffene sich z. B. unsicher fühlen, jetzt endlich die “richtige” Entscheidung treffen wollen und Angst haben, Fehler zu machen. Dies kann zu andauerndem Grübeln über das eigene Verhalten führen. Grübelgedanken kreisen oft immer wieder um dasselbe Thema. Grosse Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Gefühle innerer Lehre und Hoffnungslosigkeit sind oft vorherrschend. Sie können zunehmend bedrücken und lähmen. Oft wissen Depressive nicht, weshalb sie traurig sind und weinen anscheinend ohne Grund. Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, Zukunftsängste, die Angst, eine Belastung für andere zu sein, aber auch diffuse Ängste allem und jedem gegenüber können vorherrschen und ebenso Hilflosigkeit und Ohnmacht. Depressive Menschen können sich antriebslos, erschöpft und energielos fühlen – aber auch gegenteiliges Verhalten kann vorherrschen: Rastlosigkeit und die Unfähigkeit, still sitzen zu können. Den Energie- und Antriebslosen kann das morgendliche Aufstehen und Ankleiden als unüberwindliche Anstrengung erscheinen. Sie würden lieber im Bett bleiben und sich unter der Decke verkriechen. Alles erscheint ihnen als “zu viel”. Sie brauchen für alles viel länger oder schieben Arbeiten auf, geben Hobbies auf und verlieren Ihre Interessen, Wünsche und Intentionen. Sie ziehen sich zurück von ihren Mitmenschen, können sich abkapseln.

Meditation in der Depressionsbehandlung

Psychotherapien und medikamentöse Behandlungen mit Antidepressiva sind die gängigen Therapieformen bei Depressionen. Wie wirken Meditationsübungen bei Menschen mit Depressionen?[3. Siehe ausführlich: Britton, Willoughby B., Ph.D., Meditation and Depression, Diss. Universität von Arizona, 2007.]

Meditations-, Yoga- und Atemübungen können Menschen mit Depressionen davor bewahren, in das wiederholte und anhaltende Grübeln über ihr Schicksahl zu verfallen, das sie zunehmend erschöpft. Durch die fortgesetzte Meditation ist es möglich, sich innerlich von der eigenen depressiven Gedankenwelt zu distanzieren, zu disidentifizieren. So können die Gedanken wieder als Gedanken und nicht als „die Wirklichkeit“ wahrgenommen werden und nicht weiter durch erneute depressive Gedankenstränge genährt und am Leben erhalten werden. Zudem können durch intensive, langandauernde Meditationsretreats, bei denen es dem Meditierenden gelingt, sich von Grübelgedanken zu befreien, wieder mehr innere Zufriedenheit, innere Freiheit von Belastendem, Ausgeglichenheit und Hoffnung auf Veränderbarkeit auftreten, bis hin zu gehobeneren Stimmungen, sich gut fühlen, Perspektiven sehen und Gefühlen innerer Geborgenheit.
Die Abwesenheit von Gedanken und innere Leere kann in der Meditation mit einer ganz anderen Qualität erlebt werden, als die Leere und das sich leblos- und emotionslos Fühlen in der Depression. Sie kann zu einer Leere mit einer Qualität von so etwas wie “Fülle” oder gelassener Geborgenheit werden. Empfehlenswert ist das Buch von Philip Martin: Der Zen Weg aus der Depression. Therapeutisch-spirituelle Hilfe zur Selbsthilfe. [4. OW Barth Verlag, 2004.]

Gelingt es depressiven Menschen in der Meditation jedoch nicht, sich von Grübelgedanken zu disidentifizieren und werden die Grübelgedanken dabei nur noch stärker, kann es sinnvoll sein, eine fokussierende Meditationsmethode auf ein externes Objekt auszuprobieren, da externe, sichtbare Meditationsgegenstände wie beispielsweise ein aufgeschriebenes Mantra z. B. in Form eines traditionellen Meditationsrollbildes mit der Silbe OM, MU etc. oder die Meditation auf eine Kerze oder eine Blume. Der Grund dafür ist einfach: wenn Grübelgedanken die Aufmerksamkeit so sehr auf sich ziehen, dass es sehr schwierig ist, sich ihrer Intensität zu entziehen, benötigt man einen stärkeren Stimulus, der in der Lage ist, die Aufmerksamkeit an sich zu binden. Je mehr Sinnesmodalitäten beim Aufbau eines Meditationsobjekts involviert sind, desto stärker wird das Meditationsobjekt. Wenn wir uns beispielsweise auf den Atem ausrichten und mit dem Atem ein Matra verbinden, das wir innerlich sprechen und damit noch ein visuelles Objekt verbinden – beispielsweise das erwähnte Rollbild, auf welchem das Mantra zu sehen ist, dann haben wir damit einen Stimulus geschaffen, der aus drei Sinnesmodalitäten besteht: dem Atem, dem inneren Hören und dem äusseren Sehen. Und ein solcher Stimulus kann die Kraft haben, die Aufmerksamkeit von inneren Grübelgedanken wegzulenken.

Ebenso kann es sehr sinnvoll sein, wenn ein depressiver Mensch regelmässig Metta-Meditation (liebevolle Güte) praktiziert.[5. Akers, D et al: Meditation and Treatment of Female Trauma Survivors, in: Lee, Mo Yee et al: Integrative Body-Mind-Spirit Social Work: An Empirically Based Approach to Assessment and Treatment, Oxford University Press, 2009, 275-289. Diese Studie zeigt, dass Metta-Meditation bei traumabedingten Depressionen positive Wirkungen entfalten können.] Aber aus Erfahrung lässt sich sagen: nicht allen depressiven Menschen gelingt es auf anhieb, sich einen Zugang zu so einem Gefühl wie liebevolle Güte zu finden. Zudem können innere Kritikeranteile das Dranbleiben und Durchhalten regelmässigen Übens vereiteln. Daher ist ergänzend eine psychologische Begleitung wie beispielsweise mittels Innerer Friedenskonferenz äusserst sinnvoll.

Achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie schneidet gleich gut ab wie Antidepressiva

Ein Beispiel aus der Forschung. Zindel Segal vom Center for Addiction and Mental Health in Toronto hat eine von ihm als achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie entwickelt, die, neben Elementen der kognitiven und Verhaltenstherapie, Yogaübungen und Achsamkeitsmeditation enthält.[6. Williams M, Teasdale J u.a.: Der achtsame Weg durch die Depression, Arbor-Verlag 2009.] In einer Studie mit 180 Patienten, die sich unter einer medikamentösen Therapie mit Antidepressiva von einer depressiven Episode erholt hatten, wurde dieser Therapieansatz erprobt. Zwei Vergleichsgruppen wurden gebildet, eine erhielt ein Placebo, die andere setzte die Einnahme von Antidepressiva fort.[7. Segal ZV et al: Antidepressant Monotherapy vs Sequential Pharmacotherapy and Mindfulness-Based Cognitive Therapy, or Placebo, for Relapse Prophylaxis in Recurrent Depression, in: Archives of general psychiatry, 67 (12), 2010. Siehe auch: Wiveka R et al: The Effects of Mindfulness Meditation on Cognitive Processes and Affect in Patients with Past Depression, in: Cognitive Therapy and Research, Volume 28, Number 4, 2004, 433-455. Und ebenso: Michiyo Ando, Tatsuya Morita, Tatsuo Akechi, Sayoko Ito, Masaya Tanaka, Yuka Ifuku: The efficacy of mindfulness-based meditation therapy on anxiety, depression, and spirituality in Japanese patients with cancer, in: Journal of Palliative Medicine (2009), Volume: 12, Issue: 12, 1091-1094. Sowie: Zautra, A J et al : Comparison of cognitive behavioral and mindfulness meditation interventions on adaptation to rheumatoid arthritis for patients with and without history of recurrent depression, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology (2008), Volume: 76, Issue: 3, Publisher: Americen Psychological Association, 408-421.] Die erste Gruppe setzte die Antidepressiva langsam ab und ging zur achtsamkeitsbasierten kognitiven Verhaltenstherapie über. Die Achtsamkeitsübungen, die aus Yogaübungen, Achtsamkeitsmeditation auf den Körper (bodyscan) und Achtsamkeitsmeditation auf den Atem bestanden, wurden innerhalb von acht Wochen wöchentlich 2 Stunden, sowie in einem eintägigen Retreat vermittelt. Danach konnten die Patienten an monatlichen Treffen teilnehmen. Nach 18 Monaten wurden die Wirkungen der drei Ansätze evaluiert. Die achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie war nicht immer erfolgreich. Die Rückfallrate betrug 28% . Sie war damit aber geringer als in der Placebo-Gruppe, in der 71% der Teilnehmer einen depressiven Rückfall erlitten. In der dritten Gruppe mit fortgesetzter Therapie mit Antidepressiva betrug die Rückfallquote 26%. Damit war die erste Gruppe, die von Antidepressiva zu Meditation überging ebenso erfolgreich wie die Gruppe, die die Therapie mit Antidepressiva weiterführte. Segal sieht daher den Übergang von der medikamentenbasierten Therapie mit Antidepressiva zur achtsamkeitsbasierten kognitiven Verhaltenstherapie als eine mögliche Alternative für Patienten, die die Medikamente nicht vertragen oder sie nach einer akuten Anwendung nicht auf Dauer einnehmen möchten.

Meditation kombiniert mit Aerobic gegen Depressionen

Eine 2016 veröffentlichten Studie von Brandon Alderman und Tracey Shors, in der depressive Patienten ein 8-Wöchiges Training mit  Meditation und leichten Aerobicübungen absolvierten, berichtet über eine signifikante Reduktion depressiver Symptome und Grübelgedanken mit einer gleichzeitigen Zunahme Synchronisierter Gehirnaktivität.[8. BL Alderman, RL Olson, CJ Brush, TJ Shors: MAP training: combining meditation and aerobic exercise reduces depression and rumination while enhancing synchronized brain activity, in: Translational Psychiatry (2016) 6,e726; doi:10.1038/tp.2015.225; online veröffentlicht: 2. Februar 2016.] An der Studie nahmen 52 Probanden teil. Davon hatten 22 die Diagnose “Depression”. Zwei Mal pro Woche meditierten die Teilnehmenden und machten Aerobic für je 30 Minuten. Die Forscher testeten vor und nach dem Acht-Wochenprogramm die Konzentrationfähigkeit und die Stimmung. Bei den 22 depressiven Patienten reduzierten sich die depressiven Symptome um 40%. Auch die übrigen Teilnehmenden berichteten über eine Abnahme von Grübelgedanken, Angstgefühle und über eine verbesserte Motivation.

Allgemein lässt sich sagen: Bewegung, Yoga, Atemübungen, Sport, körperbetonte Meditationsformen sind in Kombination mit verschiedenen stilleren Meditationsformen äusserst sinnvoll.

Metastudien zur Behandlung von Depressionen mittels achtsamkeitsbasierten Interventionen

Jährlich erscheinen zur Zeit mehr als 800 Studien über achtsamkeitsbasierte Interventionen in unterschiedlichsten Kontexten. Leider existieren bis heute nur wenig Metastudien, d. h. Studien, in welchen die zahlreichen Einzelstudien miteinander verglichen werden.

2014 erschien eine Studie von Susanne Hempel, in welcher 8 Zusammenfassungen von Studien über die Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Interventionen bei Depressionen miteinander verglichen wurden.[8. Siehe: Susanne Hempel et al.: Evidance Based Map of Mindfulness, hersg. vom Washington (DC): Department of Veterans Affairs (US); 2014 Oct.] In der grössten Zusammenfassung wurden 14 Studien miteinander verglichen.
Hempel fasst die Ergebnisse ihrer Vergleiche in einer Übersichtskarte zusammen, in der die Behandlung von Depressionen mit der Behandlung anderen Krankheiten verglichen wird. Die Behandlung der Depression mittels achtsamkeitsbasierter Verfahren schneitet im Vergleich zur Behandlung anderer Erkrankungen sehr gut ab.

Simon B. Goldberg hat mit seinen Mitarbeitern in einer 2018 veröffentlichten Meta-Studie 49 Studien zur Wirkung von Achtsamkeitsbasierten Methoden bei Depressionen miteinander verglichen.[9. Siehe: Simon B. Goldberg et al: Mindfulness-based interventions for psychiatric disorders: A systematic review and meta-Analysis, in: Clinical Psychology Review, Volume 59, February 2018, S. 52-60.]
Insgesamt nahmen 4.500 Menschen an diesen Studien teil. Rund die Hälfte wurde mit achtsamkeitsbasierten Interventionen behandelt. Goldbergs Fazit:

«Der klarste Nachweis bezüglich der Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Interventionen zeigte sich bezüglich der Behandlung von Depressionen.
Achtsamkeitsbasierte Interventionen waren überlegen bezüglich keinerlei Behandlung (30 Studien), anderen Therapieformen (9 Studien) und sie waren äquivalent gegenüber Therapieformen, deren Wirksamkeit bereits nachgewiesen werden konnte und von führenden Institutionen angewendet werden (10 Studien).»

Mit anderen Worten: Achtsamkeitsbasierte Verfahren und Meditation sind heute bei der Behandlung von Depressionen eigentlich kaum mehr weg zu denken.

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