Autor: Peter Widmer

Kanzeon – der Bodhisattva des Mitgefühls

Im Buddhismus bedeutet Mitgefühl: den empfindenden Lebewesen – ob Mensch oder Tier – zu wünschen, frei von Leid zu sein und dass ihre existenziellen körperlichen und sozialen Grundbedürfnisse erfüllt sein mögen.
Existenzielle körperliche und soziale Bedürfnisse sind vielfältig. Die prominentesten sind: das Bedürfnis nach Sicherheit, körperlicher und geistiger Unversehrtheit, Gesundheit, Glück, sich wahrgenommen fühlen, gewertschätzt, eine Bedeutung haben für andere, etc. Es geht hierbei also um ganz grundlegende Bedürfnisse, die alle sozialen und nicht-sozialen fühlenden Wesen haben. Mitgefühl ist eine universelle Reaktion auf die Leidfähigkeit von Lebewesen. Es verbindet, tröstet, schafft Intimität und Nähe und ist die Grundlage vertrauensvoller und gelingender zwischenmenschlicher Wechselwirkungen.
Leere (shunya) ist einerseits die Erfahrung der Abwesenheit des Denkens und der Subjekt-Objekt-Spaltung, andererseits der zentrale Kern spätbuddhistischer Philosophie. Wie können wir durch die Praxis der Leere und des Mitgefühls mitfühlender werden? Dies ist das Thema des folgenden Blogbeitrags.

Mitgefühl als heilsamer Gegenpol zu Mitleid, Traurigkeit, Apathie, Gleichgültigkeit und Grausamkeit

Mitgefühl unterscheidet sich buddhistisch gesehen grundlegend von Mitleid, insofern man beim Mitleid, empathisch mit dem Leiden anderer mitschwingt mit dem Leid anderer. Schwingen wir ständig mit dem Leid anderer emotional mit, so macht uns das traurig, immer trauriger. Mitleid kann uns mit der Zeit nicht nur in eine traurige, depressive innere Stimmung versetzen und pessimistisch machen, sondern auf Dauer emotional ausbrennen. Um funktionsfähig zu bleiben und unseren Alltag auf die Reihe zu bekommen, distanzieren sich Menschen innerlich und äusserlich vom Leiden und können apathisch und gleichgültig werden. Manche Menschen können hart werden, wenn sie Leiden begegnen, insbesondere, wenn sie dabei an eigenes, vergangenes Leiden erinnert werden. Dann können sie kalt und grausam werden. Alle diese Verhaltensweisen trennen uns voneinander, schaffen Egozentrik, Vereinzelung, schüren Misstrauen und Angst.
Die Kultivierung von Mitgefühl hingegen ist ein heilsamer Gegenpol zu all diesen Verhaltensweisen. Mitgefühl bedeutet buddhistisch: die bewusste Kultivierung von Gedanken, Worten und Taten, die trösten und leid lindern. Die Praxis des Mitgefühls stärkt eine innere Haltung des Selbstmitgefühls und des Mitgefühls mit allen fühlenden Lebewesen. Diese Praxis verbindet uns, schafft Nähe, Intimität, Solidarität, Zusammenhalt und Vertrauen.

Leere (shunya) als Ausgangspunkt für die Kultivierung einer mitfühlenden Haltung

Wenn wir in der Meditation tief in die Erfahrung der Leere eindringen, dann ist unser Bewusstsein frei von Konzepten und Gedanken darüber, was für den anderen gut sein könnte, frei von einer eigenen Agenda. Dann sind wir ganz präsent, achtsam wahrnehmend, mit dem was jetzt gerade ist, was der Augenblick uns bietet, mit dem Menschen, der gerade vor uns ist. Wir sind offen, unser Herz ist weit für die Erfahrungen des anderen Menschen. Wenn Leiden da ist, erkennen wir, dass hier jemand leidet und wir sind fähig, in Gedanken und Worten auszudrücken, dass dieses Leiden gerade da ist: “Ja! – Das tut weh! Ich kann mir vorstellen: Das ist wirklich schwierig!” Wenn wir mitleidend ein Stück weit mitschwingen und dieses Leiden verbal zum Ausdruck bringen können, dann fühlen andere sich von uns wahrgenommen in ihrem Leid. Und wenn sich jemand gesehen fühlt, dann entsteht Nähe, Verbundenheit. Wenn jemand uns in unserem Leiden erkennt, erkennt die Person, die dies ausdrückt, dass wir in unserer Leidfähigkeit alle gleich sind. Die Tatsache der Verletzlichkeit als solche verbindet uns, wenn wir sie zum Ausdruck bringen. Nun können wir mitfühlend reagieren, andere in Gedanken, Worten und Taten trösten. Damit trösten wir nicht nur andere, sondern immer auch uns selbst. Denn wenn wir anderen tröstende Gedanken schenken, dann wirken diese in unserem eigenen Bewusstsein auf uns selbst zurück. Wir bringen uns damit in eine innere Haltung des Mitgefühls und wir kultivieren eine mitfühlende innere Haltung. Jetzt können wir auch in Worten und Taten hilfreich sein, ohne das Mitgefühl für uns selbst zu vergessen. Denn wenn wir helfend unterwegs sind, vergessen wir oft, uns selbst zu helfen. Wenn wir mitleidend ausbrennen und unser Körper an die Grenzen seiner Ressourcen gelangt, dann können wir nicht mehr hilfreich für andere da sein.

Die Praxis liebender Güte (Metta) als Grundlage für Mitgefühl (Karuna)

Im Alltag

Metta bedeutet soviel wie Freundlichkeit, Freundschaft, liebende Güte, Liebe. “Metta ist wie Wasser für den Baum des Mitgefühls”, wie es in einem frühbuddhistischen Suttra heisst. Wenn wir in unserem Alltag anderen wohlwollend, vertrauensvoll und freundlich begegnen, dann üben wir uns damit in der inneren Haltung von Metta. Wenn wir uns aus dieser wohlwollenden Haltung heraus um unsere gemeinsamen Bedürfnisse und Anliegen kümmern, sie uns also in Gedanken, Worten und Taten zu Herzen nehmen, dann handeln wir mitfühlend. Mitfühlendes Handeln bedeutet also auch die Kultivierung einer inneren Haltung der Verantwortung für das “Gemeinsame”, z. B. in einer Beziehung, in der Familie und in der Arbeit, etc. bis hin zu unserem gemeinsamen Lebensraum Erde.
Metta und Karuna verlangen nicht äussere Anerkennung, damit sie sich einstellen. Metta und Karuna gründen vielmehr in der Meditationspraxis. Auf diese Weise werden sie Selbstzweck, d. h. eine innere Haltung, in der wir verwurzelt sind. Es braucht “rechtes Bemühen” darum. Heilsame und prosoziale innere Haltungen entstehen nur dadurch, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken und sie für eine längere Zeit kultivieren in unseren Gedanken, Vorstellungen, Gefühlen, in Worten und Taten. Erst dann können wir uns im Alltag an sie erinnern und immer wieder von neuem einen Zugang dazu finden, selbst in solchen Situationen, in denen uns beissender Spott, Kritik, egozentrisches und aggressives Verhalten begegnet. Anderen Schaden wollen, Kritik, Egozentrik und Aggressionen begegnen uns ja nicht nur in der Welt “da draussen”, sondern auch in uns selbst. Daher ist die Kultivierung von Metta und Karuna in der Meditation so wichtig! Denn nur durch sie entstehen in schwierigen Alltagssituationen immer wieder von neuem hilfreiche, prosoziale, konstruktive zwischenmenschliche Wechselwirkungen. Sie ermöglichen es, dass wir nicht von unheilvollen Emotionen überschwemmt werden und erlauben es uns, zu deeskalieren. Das bedeutet nicht, nicht zu kritisieren, keine Aggressionen zu haben, nicht für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Wenn die innere Haltung von Karuna und Metta unsere Grundlage ist, in der wir verwurzelt sind, dann sind unsere Kritik, unsere Wut oder unser Ärger und unsere Sorge, um unsere eigenen Bedürfnisse, zurückgebunden an das, was uns wahrhaft menschlich macht: Karuna und Metta. Dann können wir die Energie unseres kritischen Denkens oder unserer Wut und unserer Sorge um uns selbst leichter in konstruktive Bahnen lenken, so dass zwischenmenschliches Vertrauen erhalten bleiben kann.

In der Meditation: Leere (shunya) als Endpunkt der Kultivierung einer mitfühlenden Haltung

Während der Frühbuddhismus tendenziell davon ausgeht, dass Leerheit (shunya) durch einen stufenweisen Prozess erfahrbar ist, lehrt der Spätbuddhismus und insbesondere Zen, dass wir sämtliche Konzepte und Gedanken mit einem Mal verlieren und so die Abwesenheit sämtlicher Konstrukte des Geistes, form- und sprachlos erleben können. [1. Zum stufenweisen Meditationsprozess zur Erkenntnis der Leere (shunya) im Frühbuddhismus, siehe ausführlich: Bhikkhu Analayo: Compassion and Emptiness in Eary Buddhist Meditation, S. 100-123.] Bereits im Frühbuddhismus findet sich die plötzliche, spontane Erfahrung von Leere (shunya), wie sie typisch ist für den Zen-Buddhismus. [2. Siehe Ebd.: S. 110f.] In diesem Moment sind sämtlich Anhaftungen an Konzepten, Gedanken, Vorstellungen, Ideen, innere Bilder etc. ausgelöscht. Die Erfahrung der Zeit ist endloses Jetzt. Dieses Erlebnis kann unterschiedlich “tief” oder “intensiv” sein. Diese Erfahrung von shunya hinterlässt eine tiefgreifende Berührbarkeit, die wir auf unterschiedlichste Arten und Weisen durch die Kultivierung von Metta, Karuna und den anderen Brahmaviharas (“grenzenlosen Verweilungszuständen”) vertiefen können.

In frühen frühbuddhistischen Sutren finden wir die Praxis, sich vorzustellen, dass Metta und Karuna aus unserem “Herzgeist” (skrt.: chitta, jpn.: kokoro) wie eine Sonne in alle Himmelsrichtungen auf alle Lebewesen ausstrahlt, ohne Unterschied, egal wen diese Sonnenstrahlen erhellen. Der “Herzgeist” ist der Bereich zwischen Herz, Bauch und Sonnengeflecht. In der Stille tiefer Meditation ist unser Bewusstsein hellwach und klar und es fällt uns viel einfacher, diese strahlende Sonne in unserem Herzen, die mit ihren Strahlen uns und alles durchdringt, vorzustellen. Wenn das Bewusstsein von Mitgefühl grenzenlos und objektlos ist und das Bewusstsein freudig darin verweilen kann, können wir diese Praxis auch in der Gehmeditation gut üben und schliesslich auf alle alltäglichen Situationen übertragen. So können wir Traurigkeit und Kummer überwinden. Diese ursprüngliche Form der Übung ist, so lesen wir in Santidevas Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattva (Bodhisattvabhumi) und Asangas Anleitungen auf dem Weg zur Glückseligkeit (Bodhicaryavatara), beides Klassiker des Buddhismus aus dem 4. und 8. Jh., das eigentliche Ziel, auch der gradweisen Praxis, wie sie in späteren Sutren, wie dem Visuddhimagga gelehrt wird. [3. Siehe Ebd.: S. 25f.]

Um mit Metta in Kontakt zu kommen gibt es beispielsweise das aus dem tibetischen Buddhismus stammende Bild der liebevollen Mutter, die sich ihrem kleinen Kind zuwendet. Als Männer können wir uns auch als liebevolle Väter vorstellen, die sich ihrem Kind zuwenden. Wir können uns auch vorstellen, wie alle Lebewesen unsere Geschwister oder Kinder sein könnten. Wir können uns auch ganz einfach ein geliebtes Wesen vorstellen. Das kann ein Haustier sein, ein Mensch, Gott oder sogar ein verstorbener Mensch, den wir geliebt haben oder der uns seine Liebe schenkte und über dessen Tod wir nicht automatisch mit Trauer reagieren, sondern an den wir uns gerne und mit wohlwollenden Gefühlen erinnern.
Metta und die anderen Brahmaviharas (skr. – dt.: “Grenzenlose innere Zustände” – das sind: Liebende Güte, Freude und Mitfreude, Gelassenheit und Mitgefühl), so ein weiteres frühbuddhistisches Gleichnis, soll ausstrahlen, wie wenn ein Mensch auf einer Bergspitze ein Lied singt, man denke an den Albsegen, der in Bergregionen abends beim Sonnenuntergang von den Sennen gesungen wird, dessen Echo in allen Tälern widerhallt und von allen Lebewesen gehört werden kann.

In späteren frühbuddhistischen Sutren, wie beispielsweise dem Visuddhimagga, wird die Praxis der Brahmaviharas systematisiert und aufgegliedert in verschiedene, sich erweiternde Kreise von Lebewesen, denen man sich zuwendet. Man beginnt bei der Mettameditation, indem man sich einen Menschen vorstellt, der einem wohlgesonnen ist, ein Wohltäter oder eine Wohltäterin, danach wendet man sich sich selbst zu und wünscht sich mit 2-3 passenden Wünschen Gutes, wie beispielsweise: “Möge ich mich sicher fühlen, möge es mir wohl ergehen, möge ich glücklich sein, etc.” Man spricht dabei existenzielle Grundbedürfnisse an, die auf jeden Menschen und jedes Lebewesen zutreffen. Dann erweitert man den Kreis auf neutrale nahestehende Personen, dann auf richtig Nahestehende, mit denen man vielleicht auch Konflikte und Probleme hat, dann auf Unbekannte, auf Menschen mit denen man nichts zu tun haben will, die man nicht mag und schliesslich auf alle Lebewesen in alle vier Himmelsrichtungen, grosse und kleine, sichtbare und unsichtbare, jedweden Geschlechts, solche, die sich in der Luft bewegen, in der Erde und im Wasser, alle Lebewesen vergangener und zukünftiger Zeitalter, allumfassend, endlos, zeitlos.
Diese systematischen Meditationsformen der Brahmaviharas sind nichts anderes als geschickte Mittel (skr.: upāya), die uns helfen, shunyata zu erreichen, die namenlose Erfahrung, über die letztlich nichts gesagt werden kann und die nur selbst erlebt werden kann.

Eine Antwort

  1. Danke Peter für deine immer wieder inspirierenden und tiefgreifenden Blogbeiträgen, die im allzu hektischen Alltag mit all den zerstreuenden äusseren Einflüssen, uns wieder helfen zur inneren Ruhe und Besinnung auf das wirklich wichtige, zurückzufinden!

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