Autor: Peter Widmer

Ein Zen-Schüler fragte Joshu in allem Ernst: “Was ist Buddha?” Joshu antwortete: „Der Eichbaum im Garten.“
aus der Koan-Sammlung Mumonkan

Zen-Koans sind Mittel der Unterweisung und Meditation im Zen. Auf den ersten Blick wirken die Antworten der Zen-Meister in den Koans unverständlich, paradox, sinnlos.
Meditationsanfänger haben oft Mühe, sich auf eine traditionelle Koanschulung einzulassen, weil sich ihnen der Sinn von Koans von Anfang an verschliesst und weil sie keine befriedigende Antwort auf ihr Nachfragen erhalten. Sie werden bewusst vor den Kopf gestossen. Zudem ist eine Koanschulung geprägt von einem hierarchischen Verhältnis zwischen einem/r Zen-Meister/in, der/die alle „Koan-Antworten“ kennt und einem/r Schüler/in, der/die unentwegt versucht, die „richtige“ Antwort auf das jeweilige Koan zu geben und immer wieder zurückgewiesen wird, bis er sie geben kann. Das kann frustrierend sein. Insbesondere Menschen, die Schwierigkeiten mit hierarchischen Verhältnissen und Prüfungssituationen haben, lassen sich entweder gar nicht auf Koans ein oder kehren, bald nachdem sie begonnen haben, wieder zur Aufmerksamkeit auf den Atem zurück und verzichten oftmals frustriert auf weitere Koans. Aus diesen Gründen und auch weil das Angebot an eingängigen, unmittelbar wohltuenden Meditationsmethoden uferlos ist, ist das Interesse an Koanarbeit in den vergangenen Jahren leider zurück gegangen.
Doch die Zeiten ändern sich und es gibt durchaus Möglichkeiten, Koans von Beginn an auf eine Art und Weise verständlich zu machen und mit ihnen zu arbeiten, durch die Menschen des 21. Jahrhunderts besser abgeholt werden und mit denen sie neugierig, motiviert, freudig und tief berührt mit Koans arbeiten können. Davon handelt dieser Blogbeitrag.

Was sind Koans?

Koans sind Kurzgeschichten, die meist einen Dialog zwischen einem Zen-Meister und einem Schüler oder zwischen zwei Zen-Meistern wiedergeben und dabei manchmal auch auf Anektoten über Zen-Meister/innen und historische Ereignisse der Chinesischen Geschichte zurückgreifen. Die in Koans auftretenden Personen stammen aus der Tang- und Song-Dynastie (617-907 und 690-1279 u. Z.). Ursprünglich wurden Koans mündlich weitergegeben, d. h. von den Meistern im Dokusan (Einzelgespräch) einem Mönchen vorgetragen, vom Mönch auswendig gelernt und damit in der Meditation „gearbeitet“. Mit der Zeit wurden Koans in Koan-Büchern in Schriftform gesammelt und teilweise mit Einleitungen und Versen versehen. Zen-Lehrende beziehen sich in Teishos (Zen-Vorträgen) und Mondos (Rituell gestellte Frage eines Schülers und Antwort eines Lehrers vor den Meditierenden) auf Koans, um den Schülerinnen und Schülern Satori nahezubringen. Koans enthalten einen Apell: „Mache diese Erfahrung selbst!“

Daoistische und Buddhistische Hintergründe der Verwendung von Koans in der Meditation

1. Die Daoistische „Vorlage“ für die Komposition von Koans

Die Symbolik von Yin und Yang bildet die Vorlage für die Komposition von guten Koans und Zen-Gedichten. Yin und Yang versinnbildlichen sprachlich die erfahrbaren Gegensätze dieser Welt, wie beispielsweise männlich und weiblich, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Sonne und Mond, Vergangenheit und Zukunft, oben und unten. Das Dao (chin. – jpn. ) versinnbildlicht die verborgene Einheit hinter all den sprachlich benennbaren Gegensätzen. Die Gegensätze zu überwinden und zum Dao durchzubrechen ist der „Sinn“ der Meditation mit einem Koan.

Ein Beispiel dazu gibt das folgende Zen-Gedicht:
“Zehntausend Blumen im Frühjahr. Der Mond im Herbst.
Ein Brise im Frühling. Schnee im Winter.
Wenn Dein Bewusstsein nicht umwölkt ist von Unnötigem,
ist dieser eine Augenblick – jetzt – die beste Jahreszeit deines Lebens.”

2. Buddhistische Erkenntnistheorie und Übungspraxis

Ein weiterer Hintergrund der Koanübung ist die Buddhistische Erkenntnistheorie, die sehr modern davon ausgeht, dass unsere Erfahrungen Konstrukte unserer Wahrnehmungen, Gefühle und unseres Denkens sind.
Im Buddhismus wird von „sechs Sinnen“ gesprochen, die uns unsere Welt vermitteln: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, unsere Körperempfindungen und unser Denken. Das Denken, das in der westlichen Philosophie und Weltsicht von Platon bis in die heutige Zeit unseren Sinnesempfindungen und Gefühlen als überlegen gilt, ist im Buddhismus gleichrangig mit den Sinneswahrnehmungen und den Gefühlen. Auch das Denken wird hier als „Sinn“ bezeichnet.[1. Genaugenommen ist die Rede von skr. „nama“, was wörtlich soviel wie „Eigennahmen“ bedeutet.] Auf der Grundlage der sechs Sinne entsteht ein Bewusstseinseindruck (skr. sal-āyatana-paccayā phasso). Darauf folgt unmittelbar eine Gefühlstönung (skr. vedanā). Dabei wird unterschieden zwischen einer angenehmen Gefühlstönung, einer unangenehmen, einer neutralen und einer Mischform. Daraus kann ein “Verlangen”, eine “Begehrlichkeit”, “Gier” (skr. lobha) entstehen: man will mehr angenehme Gefühlstönungen. Wenn die Gier oder das Verlangen ins Übermass gesteigert ist, spricht man von einer “Anhaftung” (skr. upādāna).
Anhaften kann man an allem, was in den Vordergund des Bewusstseins gelangt und dort fixiert wird: angenehme Sinneswahrnehmungen, Empfindungen, Emotionen und Gedanken ebenso wie unangenehme oder neutrale, etc. Wir können Anhaften an Phantasien, was wir alles mit einem Lottogewinn anstellen würden oder wenn der Märchenprinz plötzlich in unser Leben treten würde oder an leidvollen Gedanken, Kathastrophenphantasien, Selbstkritik oder an leidvollen Gefühlen, Empfindungen und Erinnerungen.
Unsere Erfahrung ist nach Buddhistischer Erkenntnistheorie also eine Konstruktion aus all diesen Elementen, an deren Ende eine Gier oder eine Anhaftung im Vordergrund des Bewusstseins steht. Mit ihrer Lebenspraktischen Ausrichtung haben wir es bei dieser Erkenntnistheorie zugleich mit einer Übungspraxis zu tun. In der Buddhistischen Übungspraxis erkennen wir, dass all unsere Erfahrungen Konstrukte sind und wir lernen uns davon zu befreien und damit Leiden in Form von Anhaftungen zu überwinden. Im Spätbuddhismus und insbesondere im Zen ist es das Durchschauen der Konstruktion unserer Erfahrungen in der Arbeit an Zen-Koans und das unmittelbare, intuitive Erkennen der Einheit aller Gegensätze, was man als „Satori“ bezeichnet.

Symbolisierungsprozesse – eine “Prise” Symboltheorie

Sehr ähnliche Vorstellungen über die Konstruktion unserer Erfahrungen finden sich in der modernen westlichen Philosophie, insbesondere in der sog. “Symboltheorie”, wie man sie u.a. bei Alfred North Whitehead, Nelson Goodman, Ernst Cassirer, Susanne Langer, Oswald Schwemmer und Reinhard Margreiter findet.
Ernst Cassirer bezeichnet den Menschen in seiner “Philosophie der symbolischen Formen” als „animal symbolicum“, d. h. als das „Tier“, dessen Erfahrungen vermittelt werden durch Symbolisierungsprozesse. Wir leben in einer symbolisch geprägten Welt.
Die symboltheoretische Sichtweise ist so grundlegend, dass sie mir sehr geeignet erscheint, die Erfahrung von Satori, die damit verbundene Koanarbeit sowie ihre daoistischen und buddhistischen Grundlagen verständlich zu machen.

Doch der Reihe nach: Was ist ein Symbol? Ein Symbol ist etwas, das auf etwas anderes verweist. Es wird lebensbedeutsam, indem es in einem kulturellen Kontext in zwischenmenschlichen Wechselwirkungen verwendet und verinnerlicht wird.
Sprache ist ein zentrales Symbolsystem. Doch nicht jedes Symbolsystem ist sprachlich. Es gibt auch nonverbale Symbolisierungen, wie Körpersprache, Tanz, darstellende Kunst, Musik, Träume, die sich wiederum sprachlich interpretieren lassen. Es gibt auch numerische Symbolisierungsformen wie Mathematik, Geld, Computerprogramme. Weitere, komplexe Formen der Symbolisierung sind Mythologien, Rituale, Religion, Wirtschaft, Politik, Technik, Spiritualität, Meditationsformen, Visualisierungen, Yoga, etc. In diesem Sinne ist auch Zen-Meditation, Koanarbeit und Satori eingebettet in einen spezifischen verbalen und nonverbalen Symbolisierungsprozess.

Was bedeutet „Symbolisierung“ und „Symbolisierungsprozess“? Symbolisierung ist nach Cassirer ein Prozess der Gestaltung, Formgebung, Abgrenzung, Perspektivierung unserer Erfahrung, so dass dadurch „symbolische Prägnanz“ entsteht. Cassierer unterscheidet dabei zwischen “Wahrnehmungsprägnanz” und “Bedeutungsprägnanz”. “Wahrnehmungsprägnanz” verleiht einer sinnlichen Wahrnehmung einen Umriss und eine Deutlichkeit, hebt etwas aus der Vielfalt des Wahrgenommenen prägnant heraus. Bedeutungsprägnanz bindet die prägnante Wahrnehmung mittels eines Symbols in einen kulturellen Kontext ein. Durch symbolische Prägnanz kann eine Erfahrung erinnert und später wieder erkannt werden.

Drei Schichten der Symbolisierung am Beispiel des Spracherwerbs

Kinder lernen in unzähligen zwischemenschlichen Wechselwirkungen sprechen. Dabei durchläuft der Prozess der Aneignung von Sprache nach Cassirer drei Phasen oder Schichten, die aufeinander aufbauen:

1. Die Ausdrucksphase: Kleinkinder bis Mitte erstes Lebensjahr. Sie erleben die Welt vor allem atmosphärisch. Sie werden ergriffen von den Atmosphären der Dinge, Menschen und Räume. Schon bald nach der Geburt sind sie auch Spezialisten für die Erkennung von Gesichtern und nehmen fortan die Welt physiognomisch wahr. Lautäusserungen in Form von Schreien, Gebrabbel und dem ersten Wort sind unmittelbarer Ausdruck des atmosphärischen Betroffenseins und physiognomischen Erlebens. Ein Erlebnis, z. B. eine Wahrnehmung oder ein Gefühl wird durch einen Ausdruck in Mimik und Geschrei oder Gebrabbel ausagiert und von den Eltern immer wieder gespiegelt und so verstärkt und fixiert. Die Differenz von Laut, Ausdruck, Wort und dem „Bezeichneten“ ist dabei noch nicht im Bewusstsein des Kleinkindes. Sie entwickelt sich erst langsam dadurch, dass Kleinkinder den Blick ihrer Eltern, der auf etwas kuckt und die Gesten, die auf ein Ding zeigen, verstehen. Zu Beginn hingegen steht ein atmosphärisches, ganzheitliches Ergriffensein und die Identität zwischen dem Laut und dem „Ding“.[2. Ernst Cassirer schreibt: “Der Ausdrucks-Sinn haftet an der Wahrnehmung selbst … er wird in ihr erfasst und unmittelbar erfahren… Wo der ,Sinn‘ der Welt noch als reiner Ausdruckssinn genommen wird, da weist jede Erscheinung in sich selbst einen bestimmten ,Charakter‘ auf, der aus ihr nicht bloß erschlossen oder gefolgert wird, sondern der ihm unmittelbar zukommt.” Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Band 3, S. 80ff.]

2. Die Darstellungsphase: Schon sehr früh erkennen Kleinkinder, dass der Blick oder die Geste eines Elternteils im konkreten Handeln, sich auf etwas bezieht, was gleichzeitig von den Erwachsenen benannt wird. Sie lernen langsam, dass sprachliche Bezeichnungen z. B. „Auto“, sich auf ein „Ding“ in der Welt beziehen. Damit lernen sie ganz pragmatisch, sprachliche Bezeichnungen zu verwenden, die sich auf Sachverhalte beziehen und die Welt sinnhaft gliedern.

3. Die Phase der reinen Bedeutung: Etwa ab dem zwölften Lebensjahr lernen Kinder abstrakt zu denken, d. h. losgelöst von konkreten, sinnlichen Anschauungen können sie sich nun Gedanken machen über die Dinge. Damit wird abstraktes, wissenschaftliches Denken und Argumentieren möglich.

Diese drei Schichten, resp. Phasen finden sich nach Cassirer in praktisch allen Symbolisierungsprozessen.

Satori – Erfahrungen von Einheit, Leere, Non-Dualität – in der Arbeit mit „MU“

Ein Mönch fragte Joshu ernsthaft: „Hat ein Hund Buddhanatur oder nicht?“ Joshu sagte: „MU!“

Dies ist das erste Koan in der berühmten Koansammlung „Die torlose Schranke“ von Zen-Meister Mumon Ekai (1183-1260). Für viele Zen-Praktizierende ist es das erste Koan mit dem sie sich in der Meditation beschäftigen.
Für den Möch ist „Buddhanatur“ das am meisten zu Verehrende, etwas ganz Besonderes. Und er hat gehört, dass Buddha sagte, dass alles, was existiert so vollkommen ist, wie die „Buddhanatur“. Das Wort „Buddhanatur“ symbolisiert das „Absolute“, „Umfassende“, die „Totalität der Dinge“. Da er selbst diese Einheit oder Nicht-Dualität noch nicht erfahren hat, fragt er Meister Joshu ungläubig, ob den so ein unbedeutendes Lebewesen, wie ein Hund, Buddhanatur haben könne.
Das chinesische Schriftzeichen für „MU“ (chin. 無 / 无) lässt sich im Deutschen ungefähr mit «nicht(s)» oder «ohne» wiedergeben. Es wird als Präfix verwendet, um die Abwesenheit von etwas wiederzugeben. Das Zeichen symbolisiert – typisch für den sog. Spät- oder Mahayana-Buddhismus – die “Leere”, resp. “Substanzlosigkeit” aller Dinge. Demnach gibt es keinen festen Kern, keine feste Bestimmung, welche ein Ding oder Lebewesen in sich trägt, das die Zeit überdauert. Alles ist vergänglich und existiert bloss relational, d. h. in Beziehung oder im Verhältnis zu etwas anderem. Und diese Verhältnisse verändern sich laufend. “MU” bringt daher den Kern des Spätbuddhismus zum Ausdruck.
In seiner Übungsanweisung zur Meditation mit “MU” schreibt Mumon:

«Versenke dich mit aller Kraft in dieses „MU“. Dahinein konzentriere dich ohne Unterlass bei Tag und Nacht. Doch verstehe es nicht als „nichts“ auch nicht als „seiend“ oder „nicht seiend“! Wie eine in Hast verschlungene, rotglühende Eisenkugel muss es sein, die du versuchst, wieder zu erbrechen – aber vergeblich. Alle illusorischen Gedanken und Gefühle, die du bislang gehätschelt hast, musst du austilgen. Nach geraumer Zeit solchen Übens wir MU zur Reife kommen und Innen und Aussen werden auf natürliche Weise eins sein. Du wirst dich fühlen, wie ein Stummer, der einen Traum gehabt hat: Sprachlos kennst du ihn nur für dich selbst.»

Diese Anweisung ist zentral. Sie zeigt, dass es sich hierbei um Einspitzigkeit (skr. ekāgratā) ohne Unterlass, d. h. volle Konzentration auf das Wort “MU” während der Meditation handelt. Dies ist die klassische Form der Meditationsübung mit einem sog. “Mantra”, wie es in unzähligen spirituellen Traditionen als Meditationsobjekt verwendet wird. Das bekannteste und vermutlich älteste Mantra ist die Silbe “OM”, die schon in den Veden vorkommt, den ältesten Schriften Indiens, und in den Upanishaden als Meditationsobjekt benannt wird. “OM” als Meditationsobjekt ist im Hinduismus ebenso zu finden, wie in Tantrischen Strömungen, dem Tantrischen Yoga und dem Tantrischen Buddhismus Tibets und dem Shingon Buddhismus, dem Tantrische Buddhismus Chinas und Japans. “MU” ist von der Übung und der Bedeutung her sozusagen die Zen-Version von “OM”. 

Satori als Totalitätssymbol, resp. als “Implosion” des Symbolisierungsprozesses

Die Übungsanweisung Mumons verdeutlicht die inneren Erfahrungen, die man machen kann, wenn man sich ohne Unterlass Tag und Nacht auf MU konzentriert: “wie eine in Hast verschlungene Eisenkugel muss es sein, die du versuchst, wieder zu erbrechen – aber vergeblich.” Man wird das “MU”, wenn man sich auf diese ausdauernde Art und Weise darauf konzentriert, nicht mehr los. Es wird mit der Zeit selbsttätig und verbindet sich mit jeder Art von Erfahrungen: Sinneserfahrungen während des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, während Körperempfindungen auftreten und während des Denkens. MU wirkt sozusagen als «Hall» oder «Echo» nach und bildet den Hintergrund aller Erlebnisse, auch dann, wenn man sich nicht mehr voll auf MU konzentriert. MU verwurzelt sich mit der Zeit schliesslich im Alltag.
Wenn wir in tiefe Meditation versunken sind verändert sich zugleich auch unsere Physiologie, d. h. der Atem wird drastisch reduziert, Botenstoffe, die für Entspannung zuständig sind werden ausgeschieden, der Parasympathikus arbeitet hoch aktiv, der Vagusnerv weitet sich, Glückshormone werden ausgeschieden, etc. Wir erleben einen veränderten Wachbewusstseinszustand, bei dem das Bewusstsein ganz klar und die Weltwahrnehmung intensiviert und die Konzentration auf das “MU” sehr hoch ist. Die inneren Dialoge und Monologe geraten drastisch in den Hintergrund der Aufmerksamkeit. Unsere Konzepte gehen kurzfristig verloren, werden vergessen. Daher heisst es: «Alle illusorischen Gedanken und Gefühle, die du bislang gehätschelt hast, musst du austilgen. Nach geraumer Zeit solchen Übens wird MU zur Reife kommen und Innen und Aussen werden auf natürliche Weise eins sein.» Gleichzeitig mit dem Vergessen oder drastisch in den Hintergrund treten von Sprache verdichtet sich MU zu einem Symbol, das sich auf alles was ist und sich selbst bezieht. Der Prozess der Symbolisierung gerät an seine Grenze. Reinhard Margreiter spricht in seinem Buch “Erfahrung und Mystik – Grenzen der Symbolisierung” davon, dass der Symbolisierungsprozess in diesem letztlich unmöglichen Versuch, auf alles und sich selbst zu verweisen an seine äusserste Grenze stösst und sozusagen “implodiert“. [3. Siehe: Reinhard Margreiter: Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, De Gruyter, 1997. ]
Wir haben es hier mit einem Erlebnis der Identität mit der Welt in ihrer Totalität oder Ganzheit zu tun. Alles ist eins. Eins ist Nichts. Dies ist gleichzeitig ein Erlebnis der Non-Dualität. Dieses Erlebnis wird im Zen auch «Satori» genannt.
«Du wirst dich fühlen, wie ein Stummer, der einen Traum gehabt hat: Sprachlos kennst du ihn nur für dich selbst.» schreibt Mumon. Bei Satori handelt es sich um eine individuelle Erfahrung, die mit der Sprache auf der Ebene der Darstellung und der reinen Bedeutung nicht wirklich oder nur unzureichend ausgedrückt werden kann. In tiefer Meditation findet ein Vergessen der Darstellungs- und Bedeutungsfunktion der Sprache statt und eine Einheit mit MU als der Totalität von allem mit allem und mit sich selbst.
Das Satori-Erlebnis ist jenseits von Sprache, Gefühlen und Körperempfindungen, jenseits der Aufgliederung der Sinneswahrnehmungen in verschiedene Bereiche. Satori dauert eine bestimmte Zeit und kann mehr oder weniger intensiv und lebensbedeutsam sein. Gleichwohl hinterlässt es eine Spur in unserem Gedächtnis. Im Zen wird dieses Erlebnis, welches alles mit lebhaftester Bedeutung durchtränkt mit dem Wort “Satori” verbunden und auf diese Weise in der Kultur des Zen erinnert und hat in diesem Rahmen höchste Lebensbedeutsamkeit. Zen ist das beständige Bemühen, den Alltag aus diesem Erlebnis zu leben.

Koanarbeit als apophatischer Symbolisierungsprozess – Hinwegreden der Darstellungs- und Bedeutungsebene

Die Besonderheit der kulturellen Fixierung in der Zen-Sprache ist ihr apophatischer Charakter. Apo-phasis (gr. ἀπό-φασις) bedeutet “ungesagt machen, hinwegreden”. Dabei wird das “Eigentliche”, “Wesentliche”, “Absolute”, oder wie auch immer man diese Ebene der Non-Dualität, Einheit von allem mit allem, benennen möchte, ungesagt gemacht, hinweggeredet. Diese Form der Symbolisierung ist typisch für viele mystische Traditionen in den Weltreligionen.[4. Siehe: William Franke: Apophatic Paths from Europe to China, Suny Press, 2019. ] In hoch elaborierter, dichterischer und dialogischer Form lebt sie in der Zen Tradition. Während “MU” sich in der Meditation zu einem Totalitätssymbol verdichtet, sind Koans und Zen-Gedichte auf der Darstellungs- und reinen Bedeutungsebene angesiedelt. Die apophasis ist dabei das treibende Mittel der Rede, welche jeden Versuch einer sprachlichen Darstellung mittels anschaulichen Worten, Bildern, Analogien oder durch rein abstraktes, begriffliches Sprechen über die letzten Dinge vereitelt. Als typisches Beispiel hier das Koan Nr. 19 in der Koan-Sammlung Hekiganroku (chin.: 碧巖錄 dt.: Aufzeichnungen vom türkisblauen Felsen). Engo, der die 100 Koans des Hekiganroku vor rund 1.000 Jahren zusammengestellt hat, hat zu jedem Koan eine Einführung geschrieben.

Engos Einführung zu Fall Nr. 19
«Wird ein Staubkorn gehoben, enthält es die ganze Erde.
Erblüht eine Blume, springt die Welt hervor.
Wird noch kein Stäubchen aufgewirbelt
und ist noch keine Blume erblüht,
wie kann Es dann gesehen werden?
Darum sage ich: Es ist wie bei einer Garnrolle.
Mit einem Hieb ist alles zerschnitten.
Und durch Eintauchen der Garnrolle wird alles eingefärbt.
Wenn ihr alles Wirre abschneidet und den Familienschatz hebt
überall entsprechend dem Hohen und Niedrigen,
gibt es keinen Unterschied zwischen vorn und hinten.
Jedes ist voll manifestiert.
Seid ihr noch nicht so weit, schaut auf das folgende Koan!

Koan
Wann immer Meister Gutei über den Buddhismus befragt wurde, streckte er einfach einen Finger hoch.»

Im ersten Satz der Einführung stellt der Ausdruck “die ganze Erde” die Totalität aller Dinge dar. Es wird gesagt, dass das die ganze Erde im Kleinsten, einem “Staubkorn” vorhanden ist. Damit geht die Totalität auf das Staubkorn über. Im zweiten Satz symbolisiert “die Welt” die Totalität aller Dinge. Betrachten wir das Erblühen einer Blume, “so springt die Welt hervor” – die Totalität aller Dinge zeigt sich im Erblühen der Blume. In der apophatischen Zen-Sprache wird das Unaussprechbare, Absolute, die Totalität der Dinge ständig mit einem anderen Ausdruck symbolisiert: “die ganze Erde”, “die Welt”, “Es”, “alles wird eingefärbt”, “Familienschatz”, “voll manifestiert”, etc. Mit anderen Worten: es gibt kein Symbol, welches das «Unaussprechbare» abschliessend darstellen oder abbilden könnte. Die Darstellungebene der Sprache versagt ebenso wie deren reine Bedeutungsebene. Zudem fordert der apophatische Dialog den Leser mittels einer Frage dazu auf, neugierig zu werden auf die Lösung dieser Spannung zu suchen, die durch den apophatischen Dialog entsteht: «Wird noch kein Stäubchen aufgewirbelt und ist noch keine Blume erblüht, wie kann Es denn gesehen werden?» Hier fungiert das «Es» als vorübergehender Stellvertreter oder Platzhalter des Unsagbaren. Danach folgt die Anleitung, wie man vorgehen soll in Form einer Analogie: “Es ist wie bei einer Garnrolle. Mit einem Hieb ist alles zerschnitten. Und durch Eintauchen der Garnrolle wird alles eingefärbt.” Die Garnrolle ist ein Symbol für die vielen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, die in der Meditation aufsteigen. Sie werden “mit einem Hieb” durchgeschnitten, indem die Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle für einen Augenblick in den Hintergrund der Aufmerksamkeit treten oder vergessen werden. In diesem Augenblick ist es, wie wenn “alles zerschnitten” ist. “Durch Eintauchen der Garnrolle wird alles eingefärbt.” Dieser Satz symbolisiert die Erfahrung der Einheit oder Totalität von allem mit allem. Dann folgt die Aufforderung: “Wenn ihr alles Wirre abschneidet und den Familienschatz hebt,… gibt es keinen Unterschied zwischen vorn und hinten. Jedes ist voll manifestiert.” Alles Wirre steht wiederum für die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen. Der “Familienschatz” ist wiederum ein neues Symbol für die unaussagbare Erfahrung der Totalität. Die Familie symbolisiert die Sangha, d. h. diejenigen Menschen, die gemeinsam Zen praktizieren. Der “Schatz” der Familie, von dem hier die Rede ist, ist das Erlebnis von Satori, die Totalität aller Dinge. Erlebt man Satori, so besteht kein “Unterschied zwischen vorn und hinten” mehr, d. h. die erfahrbaren Gegensätze der Welt, welche durch die Sprache benannt werden, lösen sich in dem non-dualen Erlebnis der Einheit von allem mit allem auf. In diesem Erlebnis “ist Jedes voll manifestiert”.
Wenn man diese Erfahrung noch nicht gemacht hat oder davon gerade entfernt ist, dann soll man sich dem folgenden Koan zuwenden: “Wann immer Meister Gutei über den Buddhismus befragt wurde, streckte er einfach einen Finger hoch.” Meister Gutei verweigerte das Sprechen und bediente sich einer Geste, um das Absolute, Unaussprechbare unmittelbar auszudrücken, zu präsentieren.

Koan-Lösungen als präsentative Symbolisierungen

Susanne Langer unterscheidet in ihrem Buch Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst zwischen “diskursiven” und “präsentativen Symbolisierungen”.
Diskursive Symbolisierung meint, dass Bedeutungen sich z. B. im Medium der Sprache durch das Aneinanderreihen in sich relativ stabiler und kontextinvariater Bedeutungen herstellen. Das Verstehen dieses Satzes resultiert aus dem sukzessiven Verstehen seiner Wörter, die relativ feststehende Bedeutungen in sich tragen. Diese Form der Symbolisierung ist an das Bestehen eines Vokabulars und einer Syntax gebunden.
Bei präsentativen Symbolisierungen hingegen entsteht die Bedeutung nicht linear und hintereinander durch relativ feststehende Bedeutungselemente, wie beim Lesen dieses Satzes hier, sondern nur in der Gesamtheit einer Artikulation, eines Ausdrucks und der Anordnung und Interaktion aller Elemente miteinander.
Beispiele für präsentative Symbolisierungen sind für Langer der nächtliche Traum, Rituale, Kunst. Ein Musikstück beispielsweise gewinnt seine Bedeutung durch die konkrete Anordnung und Interaktion seiner Elemente. Die Verwendung oder Platzierung jedes Tons modifiziert den ganzen Wert einer Melodie und entscheidet, welchen Ausdruckswert sie gewinnt. Präsentative Symbolisierungen operieren mit Elementen, die keine kontextinvariante Eigenbedeutung haben, die daher ihre konkrete Bedeutung nicht unabhängig von ihrer Stellung im Gesamtwerk gewinnen. Da den einzelnen Elementen nicht einzeln und isoliert von dem Relationsgefüge, in dem sie in der konkreten Artikulation erscheinen, eine konstante Bedeutung zukommt, kann durch sie kein sukzessives, sondern nur ein auf dem synoptischen Erfassen des Gesamtkomplexes beruhendes Verstehen stattfinden. Die spezifische Funktionsweise der präsentativen Symbolisierung verleiht ihr in besonderer Weise die Fähigkeit, Phänomene zu symbolisieren, die sich in der diskursiven Symbolisierung kaum oder nur sehr schwer ausdrücken lassen: Atmosphärische Erlebnisse vor jeder Subjekt-Objekt-Differenz und Strukturen, Verläufe und Dynamiken unserer Empfindungen und Gefühle.
Guteis Hochstrecken eines Fingers ist daher eine präsentative Symbolisierung seines direkten Erlebnisses der Totalität aller Dinge. Sein hochgestreckter Finger präsentiert die Totalität als solche auf der Ausdrucksebene der Symbolisierung. Koanlösungen haben immer mit dem unmittelbaren, direkten Ausdruck der Non-Dualität/Einheit von Satori zu tun. Symbolisierungen auf der Darstellungs- und Bedeutungsebene werden daher durch die apophatische Sprache von Grund auf zurückgewiesen. Allein die direkte Ausdrucksebene vermag die Erfahrung als präsentative Symbolisierung am unmittelbarsten, authentischsten, passendsten deutlich zu machen.

Präsentative Symbolisierungen in den Zen-Künsten, in der Zen Architektur und Gartengestaltung

Die Kultur des Zen hat eine Reihe von Künsten hervorgebracht, in welchen es um präsentative Symbolisierungen des Nicht-Sagbaren, «Absoluten» geht. Sämtliche sog. “Dō-Künste” sind damit gemeint, wie beispielsweise Sa-dō (die Tee-Zeremonie), Sho-dō (die Kalligraphie), Kyu-dō (die Bogenkunst), usw. Das japanische Wort “Dō” ist die Übersetzung des chinesischen Wortes “DAO” (道), das zur Zeit der Entstehung des Zen in China in den Buddhismus mit einfloss, um neben den bereits bestehenden, gewohnten buddhistischen Begriffen die unaussprechliche, letzte Wirklichkeit zu bezeichnen. Die letzte Wirklichkeit lässt sich symbolisch weder durch die Darstellungsebene noch durch die reine Bedeutungsebene vermitteln. Gegen alle Versuche, das Absolute sprachlich darzustellen oder durch abstraktes Denken zu erkennen wird die apophatische Symbolisierung verwendet. Typisch für sämtliche Dō-Künste ist, dass das DAO allein im Vollzug der jeweiligen Kunst ausgedrückt werden kann. Der Betrachter kann dabei die Anmutung oder Atmosphäre der Totalität aller Dinge im unmittelbaren Betroffensein miterleben.
Wir haben es hier also wiederum mit einer präsentativen Symbolisierung auf der Ausdrucksebene zu tun, welche die Erfahrung der Totalität atmosphärisch wiedergibt und den Betrachter anmutet, dieses Erlebnis mitzuvollzien, still zu werden, sich von der Harmonie des Ganzen betreffen zu lassen. Im Beiwohnen einer traditionellen Tee-Zeremonie, die in äusserster Harmonie und Fertigkeit, die auf jahrelange Übung zurückgeht, ist dieses Erlebnis spürbar, ebenso wie beim Betrachten eines Kalligraphie- oder Bogenmeisters, die alle ihre Kunst mit vollendeter Gelassenheit, mit leerem Bewusstsein, vollkommen präsent vollziehen.
Hierzu ein Beispiel: Kyu-dō (die Zen-Bogenkunst). Auch hier geht es um die Erfahrung oder das Erlebnis unmittelbarer Einheit zwischen dem Pfeil und seinem Ziel, dem Zielenden und dem gesamten Kosmos…

Auch in der Zen-Kloster- und -Gartenarchitektur drückt sich diese Einheit jenseits des Darstellbaren atomsphärisch aus. Die Grenzen zwischen den Räumen eines Hauses und dem harmonisch gestalteten Garten lösen sich auf und die kunstvolle Gesamtkomposition drückt die Harmonie des Kosmos, der Totalität von allem mit allem aus, die die Besucher anmuten kann.  Siehe dazu folgenden Film und vielleicht betreffen die Bilder dich unmittelbar atmosphärisch …

Zen-Koanarbeit als präsentativer Symbolisierungsprozess für den Alltag

Bei der Koanarbeit überträgt sich das “Unsagbare”, “Absolute” immer wieder von neuem auf ein anderes Wort oder eine Tätigkeit, die wir im Alltag wiederfinden. Von “MU” auf den Eichbaum im Garten, den hochgestreckten Finger, auf das Essen des Frühstücksbrötchens, die Klobürste, Autofahren, den Computer starten, soziale Interaktionen, das Zuhören, das Sprechen, das Gehen, das Suchen, zwischenmenschliche Konflikte, etc. Kein Bereich des Alltags wird dabei ausgespart. In der Koanarbeit sind wir immer wieder von neuem aufgefordert, dieses “Unsagbare”, “die Einheit der Welt” durch unser alltägliches Handeln präsentativ zum Ausdruck zu bringen. Damit ist die Arbeit mit dem Koan ein kultivierter, dialogischer Transfer, eingeübt zwischen Lehrer/in und Schüler/in vom Sitzkissen in den banalen Lebensalltag. Jedes Symbol, das wir im Alltag verwenden, ob sprachlich oder nicht-sprachlich, wird zum Übungsfeld, um aus der universalen Verbundenheit aller Dinge zu agieren, egal mit welcher Situation uns der Alltag überrascht.

10 Antworten

  1. Lieber Peter, danke für diese Darstellung der Koans aus “westlicher Sicht”. Die Arbeit mit Koans habe ich bisher als eher frustrierend erlebt, teils auch aus einem falschen Verständnis, teils aber auch aus den, wie ich es erlebt habe, starren Struktur der Koanschulung. Ich erlebte die Arbeit damit als zu ritualisiert und die Symbolik als zu dominant um darüber hinaus gehen zu können. Die Lösung war für mich letztendlich sehr unbefriedigend und, ich muss es ehrlich sagen, witzlos. Es hat mich eher befremdet und nicht wirklich inspiriert, was ich mir eigentlich von dem “lösen” erhofft habe.. Ich denke persönlich, dass es eine Koanschulung braucht, welche dem westlichen Denken angepasster ist, da die Koanschulung immer noch sehr kulturell gefärbt ist.
    Von dem her fand ich deinen Blogeintrag sehr erfrischend und erhellend, und meine Neugier betreffend Koans wieder etwas angeregter..
    Danke und ganz herzliche Grüsse.
    Patrick

    1. Lieber Patrick
      ich freue mich, dass dir mein Beitrag gefallen hat und deine Neugier auf Koans wieder etwas angeregt hat. Ich glaube, ich kann gut nachvollziehen, dass du die Arbeit mit Koans eher frustrierend erlebt hast, teils aus einem falschen Verständnis, wie du schreibst und dem Erleben starrer Strukturen, die dir zu ritualisiert erschienen und mit einer dominanten Symbolik aus einer längst vergangenen Zeitepoche. Ich bin selbst viele Jahre den gesamten Koan-Weg gegangen und habe mit Hunderten von Koans in traditionellem Setting gerungen. Aus dieser jahrelangen Auseinandersetzung damit ist mein eigenes Verständnis gewachsen. Koanschulung ist im Wesentlichen ein zwischenmenschlicher Prozess und der langjährige Prozess des Transfers wiederkehrender tiefer Meditationserlebnisse in den Alltag mit Hilfe von kleinen Geschichten, die durchaus ihre Schönheit haben und ihren Sinn als eine Art Steigbügel, wie wenn man ein Pferd besteigt, um reiten zu lernen.
      Herzlichen Gruss
      Peter

      1. Lieber Peter,
        danke für deine Antwort. So wie ich dich verstanden habe, ist weniger das Koan relevant, als vielmehr die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Das Koan dient dabei sozusagen vor allem als Vermittler. Wäre es deshalb nicht sinnvoller mit Themen zu arbeiten, die der Schüler aus seinem Alltag mitbringt, zum Bsp. Wut, Trauer usw., und so mit diesen als Koans zu arbeiten? Oder macht das keine Sinn. Die Koans sind ja oft sehr abstrakt und schwer zu verstehen, und die Lösung, auch wenn intuitiv erfasst, nur bedingt hilfreich für den eigene Alltag. Und jedes Koan wird ja auch nicht Mantragleich rezitiert..
        Ganz lieben gruss.
        Patrick

        1. Lieber Patrick
          Ja, so sehe ich das. Die Beziehung ist zentral. Mit Wut, Trauer und Alltagsthemen arbeite ich im Dokusan mit innerer Friedenskonferenz und mit (Selbst-)mitgefühlspraktiken. Ein Koan bringt die Perspektive der etwas kühleren Weisheit, der Erkenntnis mit ins Spiel und auch die kann man auf das konkrete Alltagsproblem beziehen. Meditation muss den Menschen dienen, nicht die Menschen der Meditation.
          Herzlichen Gruss
          Peter

          1. Lieber Peter,
            braucht es dann überhaupt Koans? Im Soto-Zen arbeitet man ja auch ohne.
            Gruss zurück
            Patrick

          2. Hallo Patrick
            das kommt ganz drauf an was man will. In der Soto-Tradition meditiert man zwar nicht mit Koans, aber sie werden beim Mondo, den rituellen Fragen an den Zen-Lehrer zur Erläuterung herangezogen. Im Soto-Zen sitzt man einfach und übt Shikantaza: alle Sinne sind offen und alles, was im Bewusstsein aufsteigt wird wahrgenommen, ohne sich darin festzuhalten. Wer achtsames, offenes Gewahrsein üben will, ein stilles Bewusstsein, Gelassenheit, Nicht-Denken, da ist diese Praxis wunderbar. Die Koan-Praxis unterstützt den Transfer in den Alltag, indem die Erfahrung auf die Alltagssprache “übertragen” wird. So dass jedes Wort, das wir im Alltag sprechen zum Anker wird, der uns mit dem Meditationszustand verbindet. Es ist also die Frage, was man “trainieren” will. Wenn man liebevolle Güte übt in der Meditation, dann wird die Qualität liebevoller Güte gestärkt, d. h. die zwischenmenschliche Verbundenheit, ebenso wenn man Mitgefühl praktiziert, dann ist das Mitgefühl im Fokus, wenn man Mitfreude praktiziert, so ist es die Mitfreude. Das sind alles soziale Tugenden, die sich stärken lassen. Jede Meditationsform hat ihre Berechtigung, bereichert das Leben und macht es menschlicher.
            Herzlichen Gruss
            Peter

  2. Hallo Peter,
    auch von mir vielen Dank für diesen sehr interessanten Text!
    Ich arbeite auch seit längerer Zeit bei einem Lehrer mit einem Koan und fand die Koan-Arbeit ebenfalls recht unzugänglich. Manches was du schreibst konnte ich mir zwar so ähnlich bereits aus anderen Quellen “zusammenreimen” aber es ist schön meine Vermutungen so klar ausgedrückt bestätigt zu finden.
    Wenn ich diesen Artikel schon früher hätte lesen können, wäre mir der Einstieg bestimmt leichter gefallen.

    Schönen Gruß,
    Michael

  3. Vielen Dank für diesen schönen Beitrag. Besonders spannend fand ich den für mich noch neuen Gedanken vom Einbezug des Denkens als zu den anderen Sinnen gleichgestellten Sinn! Darüber werde ich noch meditieren, um diesen Gedanken einsinken zu lassen, der so herrlich kontrapunktisch ist zu unserer Zeit.

    1. Lieber Peter
      es freut mich, dass dir der Beitrag gefallen hat. Diese Gleichstellung von Denken und Sinnlichkeit ist wirklich besonders hervorzuheben, finde ich! Das ist unserem abendländischen Denken ganz entgegengesetzt. Seit Platon gilt in unserer abendländischen Wertung das Bewusstsein, resp. das geistige Prinzip der Sinnlichkeit und dem Körper gegenüber als überlegen. Im Grunde genommen bemühen wir uns seit Freud und der 68er Revolution, Körper und Sinnlichkeit zu integrieren und als wichtig und bedeutungsvoll zurück zu gewinnen, neben der den geistigen Prinzipien der Rationalität, dem Verstand und der Vernunft.
      Herzlichen Gruss
      Peter

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