Autor: Peter Widmer

Katharina Ceming

In diesem dritten Teil des Gesprächs mit Katharina Ceming geht es um die Rolle von Gefühlen in spirituellen Traditionen. In der Regel werden sog. “positive” Gefühle und Haltungen wie Liebe, Mitgefühl, Glücksgefühle, Gelassenheit, Gleichmut, Vergebung etc. höher bewertet und gefördert und sog. “negative” Gefühle wie z. B. Unzufriedenheit, Frustration, Wut, Ärger und Hass etc. als etwas zu Überwindendes betrachtet, was nicht sein sollte. Es gibt also tendenziell eine Gefühlszensur in spirituellen Traditionen.
Die moderne Psychologie hingegen sieht gerade auch in solch “negativen” Gefühlen wichtige Informationen, die unserem Wachstum dienen können, wenn es uns gelingt, mit ihnen in Kontakt zu sein, anstatt sie zu verdrängen. Und obwohl es in spirituellen Traditionen auch meist eine Art von “Psychologie” gibt, fehlt jedoch das Konzept der Verdrängung, wie wir es seit Freud kennen. Überdies kann eine spirituelle Praxis selbst zu einem Mittel der Verdrängung werden.
Eine moderne, wahrhaft ganzheitliche Spiritualität tut daher gut daran, die Informationen sog. “negativer” Gefühle und die Aufarbeitung von Verdrängtem mit einzubeziehen. Denn nur auf diese Weise wird persönliches Wachstum wirklich möglich.

Peter Widmer (PW): Mir scheint, zusammen mit dieser Leib- und Frauenfeindlichkeit oder Verdrängung des Leiblichen und Weiblichen, gibt es in spirituellen Traditionen auch eine Art von Gefühlszensur, die dem heutigen Verständnis der Gefühle und der Bedeutung, die wir ihnen beimessen, entgegensteht. 

Katharina Ceming (KC): Ja genau. Das können wir heute erkennen. Nehmen wir folgendes Beispiel: jemand hat in seinem Leben tiefe Verletzungen erfahren und ist sehr wütend. In der Meditation nimmt er oder sie diese Wut wahr und disidentifiziert sich durch die Meditation von seiner Wut, bis sie nicht mehr da ist. Dann ist in diesem Fall die Wut nicht integriert und es gärt und blubbert munter in der Person weiter und der oder die Betreffende freut sich noch darüber, dass er oder sie jetzt vollkommen wutfrei ist.
Das ist das Gegenteil einer heilsamen Auflösung des Wut-Themas und der darunter liegenden Verletzung. Statt einer Lösung und Integration handelt es sich hier um eine Abspaltung. Emotionen tauchen in der Meditation auf und die müssen wir heute ernst nehmen. Es besteht die Gefahr in spirituellen Traditionen, mit spirituellen Phrasen zur Verdrängung psychischer Themen beizutragen. Die spirituellen Traditionen vermitteln uns bestimmte Ideale: dass wir friedvoll, mitfühlend und gelassen sein sollten und durch die Kultivierung dieser inneren Haltungen kann es vorkommen, dass wir beispielsweise Wut oder Verbitterung einfach wegschieben. Damit sind die darunterliegenden Themen aber nicht aufgelöst, sondern durch das “spirituelle Über-Ich” verdrängt worden. Dann können Menschen mit der Friedfertigkeit ihrer Meditation untergründig zu wandelnden “Bomben” werden, weil es ganz viel gibt, was nicht sein darf. Die sog. “negativen” Gefühle passen dann nicht zur Selbstwahrnehmung, denn man definiert sich als “friedliebend” und “mitfühlend” und meditiert ja schliesslich schon Jahre. “Negative Gefühle bitte raus!” heisst es dann. Das finde ich fatal.

PW: Da gibt es ja auch den schönen Begriff des „spirituellen By-passes“ von John Welwood. John Welwood sagt: „Ein spiritueller Bypass ist die Tendenz, spirituelle Ideen und Praktiken zu verwenden, um emotionale Angelegenheiten, psychische Verletzungen und unabgeschlossene Entwicklungsaufgaben zu umgehen oder zu vermeiden.“ Ken Wilber hat Welwood gekannt und übernimmt diesen Begriff und zeigt darüber hinaus, dass Entwicklungsaufgaben auf jeder Stufe der Entwicklung dazu führen können, dass wir sie nicht angemessen lösen und dass dadurch Verdrängungen entstehen können, die durch die spirituelle Praxis dann überdeckt und sozusagen unters Meditationskissen gewischt werden. Das Problem dabei, auf das Wilber aufmerksam macht, ist, dass damit Entwicklung stoppt und zwar auf der Ebene, auf welcher die Verdrängung stattfindet. Und Spiritualität fördert zwar Entwicklung, kann jedoch unter diesen Umständen selbst zu einem Hemmschuh für persönliche Entwicklung und Transformation werden.
Im Zen gibt es durchaus einen Begriff für sowas: man nennt das „Zen-Krankheit“. Doch ist das traditionelle Verständnis dessen, also Zen-Krankheit, noch völlig frei von Begriffen wie „Verdrängung“ oder „Projektion“, um das eigentliche Problem zu benennen. Wenn man beispielsweise in den Buddhismus schaut, da gibt es schon eine Art von Psychologie. Da gibt’s beispielsweise die Vorstellung von einem sog. „Speicherbewusstsein“ und davon, dass das im Bewusstsein wächst und grösser wird, worauf die Aufmerksamkeit gelenkt wird. Es gibt, wie schon erwähnt, die Vorstellung von sog. „Verunreinigungen“ des Bewusstseins oder Untugenden und es gibt Anleitungen, wie man das Bewusstsein reinigen kann, resp. wie man die Verunreinigungen / Untugenden in Tugenden verwandeln und wie man positive innere Zustände / Haltungen, wie Gelassenheit, Mitgefühl, liebevolle Güte und Mitfreude etc. fördern kann. Das bedeutet: es gibt schon sowas wie eine Psychologie, doch die kommt noch ohne die Vorstellung von Verdrängungsmechanismen aus. Und gerade darauf macht Ken Wilber in aller Deutlichkeit aufmerksam.
Und wenn ich mit Menschen aus verschiedenen spirituellen Traditionen spreche, sei es aus dem Zen-Bereich, dem Yoga-Bereich, aus Vipassana oder tibetischen Buddhismus oder auch aus christlichen Richtungen, dann höre ich immer wieder Sätze wie: „Nein! Wir benötigen eigentlich gar keine freudianische oder moderne Psychologie. Psychologie oder eine vorfreudianische Variante davon gibt es bereits in unserer eigenen spirituellen Tradition.“ Das führt zu meiner eigentlichen Frage: Gibt es eine vor-freudianische Psychologie in den spirituellen Traditionen, welche die Psychologie seit Freud im Grunde genommen obsolet macht?

KC: In der Geschichte der Spiritualitäten gab es immer wieder Lehrende, die ein sehr gutes intuitives Sensorium hatten und wahrscheinlich aufgrund ihrer Menschenkenntnis auch ein tiefes Verständnis psychodynamischer Wechselwirkungen. Dies waren wohl eher die Ausnahmen. In der Meditation kann man Gefühle auflösen und transformieren. Doch es lohnt sich auch zu schauen, wie diese Gefühle in den einzelnen Lebenssituationen zustande kommen und woher sie stammen. Insbesondere wenn sie Ausdruck von Übertragungen sind. Wenn wir mit ihnen identifiziert sind, dann nehmen wir nicht wahr, wie sie zustande kommen und was sie wirklich bedeuten. Bei der Transformation von Gefühlen in der Meditation bleibt das aussen vor. Es bleibt unbewusst.
Ich erlebe das öfters gerade mit Menschen, die traumatische Erlebnisse in ihrer Kindheit hatten. Da ist beispielsweise eine ganz starke Sehnsucht, dass durch die spirituelle Praxis Gelassenheit, Liebe, Mitgefühl und Vergebung erfahren wird, um die dahinterliegende Verletzung zu heilen. Doch oft sind da noch starke Reste der verdrängten Verletzung, so dass durch die Sehnsucht nach Liebe und Ganzwerden, das eigentliche, psychische Thema der Verletztheit nicht angegangen sondern gerade übersprungen wird in der Erfahrung einer mystischen Verschmelzung.
Ken Wilber weist darauf hin, dass jemand, der keine Persönlichkeit ausbilden konnte, also nie sich selbst sein durfte, sich wahrscheinlich sehr viel stärker von solchen spirituellen Verschmelzungssystemen angezogen fühlt, als von Traditionen, bei denen das mystische Verschmelzungserlebnis nicht so sehr im Zentrum steht.
Das traditionelle Zen beispielsweise hat ja eine grosse Nähe und gewisse Verankerung in der Samuraikultur Japans, was eine ganz bestimmte Strenge und Härte mit sich bringt. Wenn  jemand aufgrund seiner Lebensgeschichte eine solche Strenge und Härte sich selbst gegenüber mitbringt, dann findet dieser Mensch im traditionellen Zen einen spirituellen Weg, der seine Grundpathologie bestärkt. Der oder die Betreffende macht dann auch sehr schnell Fortschritte auf dem Zen-Weg, einerseits bei den Verschmelzungserlebnissen, weil keine Ich-Stärke vorhanden ist und andererseits aufgrund der Verdrängung der verletzten Seiten, was dann als Erfolg auf dem spirituellen Weg interpretiert wird. Aber eigentlich läuft indirekt eine Pathologie mit. Das zu erkennen ist wichtig für die persönliche Entwicklung des Betreffenden. Hier bedarf es der Ergänzung durch psychotherapeutische Interventionen. Wenn man im Gespräch mit dem spirituellen Lehrenden herausfinden kann, dass man noch psychische Themen in seinem Leben aufzuarbeiten hat, damit man sich sowohl auf dem spirituellen Weg, als auch in seiner Gesamtpersönlichkeit wirklich entwickeln kann, dann ist das positiv. Denn die Spiritualität sollte nicht dazu dienen, Verdrängungen und Abspaltungen zu zementieren.

PW: Was Du gerade erwähnt hast, finde ich ganz wichtig: dass Menschen von bestimmten spirituellen Traditionen angezogen werden, weil sie zu ihren Verdrängungsmustern passen. Ich möchte das noch durch eine Beobachtung ergänzen, dass Menschen sich auch spirituelle Lehrende exakt passend zu ihren internalisierten Mustern aussuchen. Sowohl das spirituelle System, das man sich aussucht, als auch der Lehrer / die Lehrerin passen in der Regel zu den eigenen Beziehungs- oder Bindungsmustern. So wählt sich beispielsweise jemand, der durch seine Kindheit ein inneres Herrschaftssystem entwickelt hat, etwa mit einem strengen inneren Kritiker oder inneren Richter, oft einen spirituellen Lehrer oder eine Lehrerin, der oder die zu diesem Muster passt. So kann es sein und ist es häufig auch, dass jemand mit einem internalisierten Herrschaftssystem genau den spirituellen Lehrer oder die Lehrerin findet, die dieses Herrschaftssystem in der zwischenmenschlichen Begegnung wiederholt.

KC: Ja. Und gerade wenn jemand in einer Tradition praktiziert, in der es vor allem darum geht, ganz schnell loszulassen, leer zu werden, nicht mehr anzuhaften, ist die Versuchung gross, wenn das gelingt, sich gar nicht mehr mit seinen psychischen Themen auseinanderzusetzen. Man kommt also gar nicht mehr an den Punkt, sich mit dem beschäftigen zu wollen, was eigentlich dringend angezeigt wäre.
Hierbei spielt auch die Integration des Körpers eine wichtige Rolle, denn die Wahrnehmung der eigenen Gefühle setzt einen Bezug zum eigenen Körper voraus. Nur wenn ich einen guten Bezug zu meinem Körper habe, kann ich auch mit meinen Gefühlen in einem guten Kontakt sein. Unsere psychosomatischen Redewendungen, wie beispielsweise “mir liegt etwas auf dem Magen” oder “ich trage eine Last auf meinen Schultern”, drücken diese Verbindung zwischen den Gefühlen und der Körperwahrnehmung aus. Und wenn jemand durch die Meditation keinen Bezug mehr zum eigenen Körper hat, dann ist es auch schwieriger oder gar unmöglich, seine Gefühle wahrzunehmen.
Je besser jemand mit seinem Körper in Kontakt ist, desto besser kann er seine eigenen Gefühle wahrnehmen und je besser das jemand kann, desto besser kann er oder sie auch die Emotionen und inneren Zustände anderer verstehen. Hier geht es um Verbundenheit und Empathie, Nachfühlen können, was in einem anderen Menschen vorgeht. Und vielleicht ist dies der Ausgangspunkt, der uns zu besseren Menschen macht, weil wir dadurch die anderen besser “lesen”, besser verstehen können. Gerade im Buddhismus werden die sog. vier grenzenlosen Zustände (liebevolle Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Gelassenheit) kultiviert. Hier geht es darum, Mitgefühl zu empfinden, empathisch mit anderen mitfühlen zu können, liebevolle Gefühle und Mitfreude entwickeln zu können. Mitfreude ist das pure Gegenteil von Neid. Sich mit anderen zu freuen geht leichter, wenn man gut bei sich selbst, seinem eigenen Körper und seinen eigenen Gefühlen sein kann.

PW: Die moderne Meditationforschung hat viele Resultate zutage gebracht die zeigen, dass Mitgefühl und Mitfreude wirklich trainiert werden können und dass auch schon Kinder das lernen können und da sehe ich auch ein Desiderat für die Entwicklung unserer Kinder, da die Empathie als Veranlagung ja schon von Natur her da ist. Da kommen wir wieder auf den Einbezug der Entwicklungspsychologie, auf die Ken Wilber ja so sehr seinen Finger legt. Also nicht nur die Aufarbeitung von Verdrängtem, sondern die Möglichkeit, dass Entwicklung gefördert werden kann und insbesondere gerade auch durch Meditation. Und das ist ja in den spirituellen Traditionen nicht per se mit drin!

KC: Ich fänds totlangweilig, wenn immer alles schon mit drin wäre. Die Welt entwickelt sich weiter und diese Entwicklungen nehmen den alten, traditionellen System ja nichts von dem, was sie geleistet haben. Die grosse positive Herausforderung besteht darin, zu erkennen, dass neue Generationen Neues entwickeln und wie man am Guten des Alten andocken und darüber hinaus weitergehen kann. Es geht darum,  spirituelle Praktiken zu entwickeln, die für unsere Kultur und Epoche passender sind. Wir kauen doch auch in anderen Bereichen nicht einfach nur das immer Gleiche wieder. Entwicklung ist ein kreativer Prozess und wir Menschen sind kreative Wesen. Wir sind spielerisch und in der Lage, Möglichkeiten und Potentiale zu entfalten und das ist doch wunderbar.

PW: Da höre ich oft auch den Einwand der Traditionalisten: Wenn wir jetzt auch noch Psychologie mit einbeziehen oder den Körper, dann wird das alles so verwässert und verwestlicht, dass der Ursprung nicht mehr sichtbar ist. Und dass die eigentliche Erfahrung, um die es geht, völlig verschwindet und die Spiritualität dann letztlich wegfällt. Was erwiderst du darauf?

KC: Wenn heute immer mehr Dimensionen in unser Leben treten und wir diese als eigene Dimensionen wahrnehmen, dann benötigen wir auch Werkzeuge dafür. Ganz simpel: ich habe meinen alten Werkzeugkasten und da ist Hammer, Nägel und Säge drin und dann stehe ich auf einer Grossbaustelle vor einem Elektroschaltkasten und darin befinden sich elektronische, computergesteuerte Module und jetzt benötige ich einen Laptop, um da irgendwas zu programmieren. Da kann ich hundertmal mit meinem Hammer draufhauen. Das Ding wird nicht zum Laufen kommen. Der Hammer ist aber weiterhin super gut, wenn ich einen Nagel einschlage. Die Säge, um Holz zu sägen und die brauche ich auch weiterhin. Aber ich brauche Zusätzliches mit dazu. In spirituellen Bereichen erlebe ich ganz viel Angst. Viele klammern sich an die Tradition, weil sie wissen, dass sie damit auf der sicheren Seite sind. Aber eigentlich konterkariert das zu hundert Prozent die Idee von Spiritualität, denn Spiritualität hat was mit Offenwerden, Weite und einem Blick aufs “Ganze” zu tun, wie immer man das “Ganze” m Einzelfall definieren mag. Und da ist eben was Neues mit dabei. Und wenn Spiritualität heilsam sein soll, dann muss sie auf die Fragen der Zeit antworten können.
Es ist ja nicht so, dass jeder spirituell Lehrende eine psychotherapeutische Ausbildung benötigt. Doch er muss erkennen, wenn  Menschen, die sich an ihn wenden, noch einen psychologischen Impuls brauchen. Dann ist es wichtig, wenn sie beispielsweise einen guten Therapeuten / eine gute Therapeutin zu den infrage stehenden Lebensthemen empfehlen können. Gerade wenn ein spiritueller Lehrer oder eine Lehrerin die eigenen Grenzen erkennt und nicht in Allmachtsphantasien gefangen ist, zeigt sich echte Kompetenz. Es gibt leider auch spirituell Lehrende, die von sich überzeugt sind, alle und jeden irgendwo hin bringen zu können und letztlich funktioniert es nicht oder verschlimmert eine Lebenssituation aufgrund der gnadenlosen Selbstüberschätzung des eigenen Gurus oder spirituell Lehrenden. Das finde ich katastrophal.

PW: Dem kann ich nur beipflichten.
Vielen Dank Katharina für dieses spannende Gespräch.

KC: Lassen wir uns nicht abschrecken von den konservativen Kräften in den spirituellen Traditionen, ob es überall vereinbar mit der Tradition ist oder nicht und machen wir gut weiter.  Das ist genau das Spannende: das Neue!

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