Es gilt schlichtweg als Gemeinplatz der Spiritualität, Meditation, Mystik- und Spiritualitätsforschung, dass das «Ich» und mit ihm die Dualität von Subjekt und Objekt sich auflöst. Häufig wird vom «Ego-Tod» oder von der «Ich-Auflösung» gesprochen, manchmal auch von der «Ich-Entgrenzung». Doch was es genau bedeutet, wenn wir eine solche Erfahrung erleben und zum Ausdruck bringen, wird erst dann wirklich klar, wenn wir auch eine explizite Vorstellung davon haben, was es heisst, ein «Ich», resp. ein «Ego» zu haben oder «jemand» zu sein. In der Philosophiegeschichte, den Neurowissenschaften und den Geisteswissenschaften finden wir unzählige Theorien darüber, was es bedeutet, «Ich» zu sagen, resp. sich als ein «Ich» zu erfahren, die wir alle weit weniger deutlich ausformuliert in unserem Alltagsverständnis finden. In diesem Kapitel geht Thomas Metzinger tiefgründig darauf ein, was es bedeutet, ein «Ich» zu sein und was heissen könnte, wenn dieses «Ich» sich auflöst.

0. Person Perspektive: Ego Auflösung in das phänomenale Feld

«…Ich begann, mich zu zersetzen und in alle Richtungen auszubreiten… Mein Bewusstsein breitete sich in grenzenlose Richtungen aus. Ich war überall und alles.» (S. 557)

«Ich erlebte, dass mein Körpergefühl keine Grenzen hatte und sich ins Unendliche ausdehnte, obwohl es sich verjüngte, und dass sich seine `Form` ständig veränderte. Das war lebensverändernd.» (S. 557)

«Beim Meditieren habe ich die Auflösung meiner Ich- und Körpergrenzen erlebt und wusste nicht mehr, wo und wer ich bin und wer da atmet. Da war nur noch der Atem ohne Innen und Aussen, ohne Subjekt und Objekt.» (S. 557)

Non-duales Erkennen oder Wissen ist, so Metzinger, ein Zustand, «dem jegliche Form von Identifikation fehlt» (S. 556). Es ist häufig, in vielen Erlebnisberichten, die Auflösung des Körperbilds, die zu einem Erlebnis räumlicher Ausdehnung, des «Einswerdens mit dem phänomenalen Feld» führt, wie die obigen Zitate aus den Berichten zeigen.

“Manchmal”, schreibt Metzinger, “können Körperempfindungen zu einem non-dualen phänomenalen Feld verschmelzen und einen globalen Zustand des `Verkörperns der Welt` erzeugen, als ob die Einheit der Identifikation maximiert worden wäre.” (S. 558) Hier ein Beispiel:

«… dämmerte es mir, dass ich der Boden war, das Gras, die Bäume, die Menschen, die dort waren, und in der Tat die ganze Welt. Ich spürte den Wind durch meine Äste (ich war die Bäume) und fühlte alle Arten von Würmern und Insekten durch mich krabbeln, denn ich fühlte, dass ich die Erde war… Es war eine sehr volle, dichte Erfahrung, sehr vollständig, die Farben waren besonders leuchtend, das Essen war besonders schmackhaft, das Berühren von Dingen war besonders intensiv…» (S. 558)

“Offenen, nicht absorbierenden Zuständen kann die Auflösung des Körpers zur Auflösung des Ich-Gefühls führen,” schreibt Metzinger. (S. 558) Im Zen bezeichnen wir diese Meditationsform als Shikantaza – man kann auch von “reinem Gewahrsein” sprechen, bei dem die Aufmerksamkeit vollkommen offen ist, ohne Fokus. Metzinger spricht hier von einem «Gestaltwechsel höchster Ordnung» – ähnlich wie bei Kippfiguren, wie z. B. dem Hasen-Enten-Bild. Je nachdem wie man Bilder mit Kippfiguren betrachtet, sieht man entweder das eine oder das andere Motiv: die Ente oder den Hasen. Der häufig unbemerkte phänomenale Charakter des Bewusstseins selbst könnte den stabilen Hintergrund für alle anderen Formen des bewussten Erlebens bilden und von einem auf den anderen Moment vom Hinter- in den Vordergrund kippen – ist eine Idee, mit der man sich solche Erfahrungen des Ich-Verlusts erklären könnte. Diese Erklärungsmöglichkeit ergibt sich aus Erfahrungen, wie dieser:

«… Ich sass auf einem Stuhl, konzentrierte mich auf meinen Atem und folgte einer geführten Metta-Meditation. Es gab eine subtile Unmittelbarkeit der Erfahrung, die sich einfach nur manifestierte. Während sie sich manifestierte, fühlte es sich an, als ob der `Hintergrund` meines Sensoriums zum `Vordergrund` wurde, oder vielleicht verschwand der Vordergrund selbst einfach. Es war alles sehr subtil. Sobald ich versuchte, es zu erfassen, befand ich mich wieder in einem dualen Subjekt/Objekt-Bewusstsein… Der Vordergrund verschwand, und der Hintergrund war endlos. Es fühlte sich an, als wäre es schon immer da gewesen, und ich erinnerte mich jetzt erst daran…» (S. 559)

Thomas Metzinger thematisiert im Folgenden die Frage, was es denn genau bedeutet, mit dem Feld oder dem Hintergrund als Ganzem zu verschmelzen. Wird dadurch die Einheit der Identifikation mit etwas maximiert oder bedeutet es, dass jegliche Identifikation vollkommen verschwindet. Er beginnt seine Überlegungen mit einem Zitat von Descartes, das einen nahezu meditativen Gehalt aufweist:

«Und das Denken? Hier finde ich nun: Das Denken ist`s, es allein kann von mir nicht getrennt werden: Ich in, ich existiere, das ist gewiss. Wie lange aber bin ich? Nun, so lange, als ich denke. Denn es wäre vielleicht möglich, dass ich, wenn ich gänzlich aufhörte zu denken, alsbald auch aufhörte zu sein.» Descartes, Meditationen über die erste Philosophie, zweite Meditation.

Der erkennend Handelnde (epistemische Akteur)

Metzinger schafft mehr Klarheit in Bezug auf die Erfahrung der Ich-Auflösung, indem er den Begriff des “epistemischen Akteurs” (engl. Das epistemic agent model) einführt. (S. 561) Es geht hierbei um die allgemeinmenschliche Erfahrung, ein erkennendes, informationshungriges, aktiv nach Wissen suchendes Selbst zu sein, mit dem wir uns erlebnismässig identifizieren. Dazu gibt er drei konkrete Beispiele: 1. Ein denkendes Selbst zu sein; 2. Ein Selbst im Moment der willentlichen Aufmerksamkeitslenkung zu sein; 3. Ein meditierender Mensch zu sein, der gerade versucht, eine Einsicht zu haben, z. B. in seine wahre Natur.              
Beispiele für den ersten Fall, ein denkendes Selbst zu sein, sind Kopfrechnen, logisches Schliessen oder aktiv einen Begriff zu bilden. In allen Beispielen geht es hierbei darum, etwas zu verstehen, zu erkennen, Wissen zu schaffen. In all diesen Vorgängen gibt es ein implizites Ziel und ein bestimmtes Verhalten oder Handeln, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei ist das Bewusstsein aktiv und benötigt Anstrengung. Ist man darin erfolgreich, entsteht die Erfahrung einer Aneignung, eines Besitzens und der gelingenden Handlungskontrolle, so Metzinger. Es entsteht soetwas wie ein «kognitives Selbstgefühl». (S. 562)         
Im Zentrum des erkennenden Handelns steht die gelenkte Aufmerksamkeit, die auch während der Meditation aktiv ist, wenn wir z.B. während der Gehmeditation die Aufmerksamkeit auf das Gehen lenken, oder auf den Atem zurückführen oder auf ein Mantra, ein Koan, eine Visualisierung, etc. Dieses die Aufmerksamkeit lenkende Selbst will etwas wissen. Es will einen Zielzustand in seinem Bewusstsein verwirklichen. Es hat eine Intention, eine Absicht.      
Wenn wir als Meditierende Bücher über Meditation lesen oder in einer bestimmten Tradition praktizieren, dann prägt dies unsere Erwartungshaltung darüber, was wir in der Meditation erleben könnten, nach welchem Zielzustand wir uns in der Meditation sehnen. Auch hierbei ist dieses epistemische Akteursmodell aktiv, welches uns jedoch verhindert, das Gesuchte zu erleben.    
Wenn wir als erkennende Handelnde agieren, ist die 1. Person Perspektive mit ihren Erinnerungen und Erwartungen oder Zielzuständen aktiv. Unser Bewusstsein ist folglich dual strukturiert.               
Metzinger unterscheide das epistemische Akteursmodell vom blossen Gedankenwanderen und spontanen Tagträumen – welche neurologisch der Aktivierung des sog. default mode networks entsprechen. Denn hierbei verlieren wir die Kontrolle über den Denkvorgang. Unser Tagträumen bei dem der epistemische Akteur verschwunden ist und wir von der Relalität des Hier und Jetzt abgekoppelt sind, kann jedoch durchaus eine Geschichte enthalten, die davon erzählt, wie wir in der Vergangenheit einmal stabiler epistemischer Akteur gewesen sind oder in der Zukunft erfolgreich unsere Gedanken und unsere Aufmerksamkeit kontrollieren werden. Aber im gegenwärtigen Moment besitzen wir keine stabile 1. Person Perspektive. Dies gilt auch für den nächtlichen Traumzustand. Erst im luziden Traum stabilisiert sich der epistemische Akteur. Das epistemische Akteursmodell ist eine wichtige Fähigkeit für die Einnahme einer 2. Person Perspektive und ein tieferes Verständnis von uns selbst. Als Säuglinge lernen wir allmählich, das Verhalten der Mutter zu verstehen und zu beeinflussen, indem wir unser allererstes mentales Modell eines epistemischen Akteurs in die Aussenwelt projizieren. «In unserem Bewusstsein verwandelt sich das, was zuvor ein schwer zu verstehendes, sich auf unvorhersehbare Weise bewegendes Objekt in unserer Umgebung gewesen ist, schrittweise in die Erfahrung eines anderen erkennenden Selbst: Mamma!» (S. 567) “Soziale Interaktionen” lösen, schreibt Metzinger “ganz automatisch immer wieder die Aktivierung des epistemischen Akteurs aus” (S. 567). Weshalb sich Meditierende, Mönche und Nonnen immer wieder für Zeiten der Einsamkeit und der Enthaltung von sozialen Wechselwirkungen entscheiden mag darin liegen, dass dadurch das epistemische Akteursmodell nicht automatisch immer wieder von neuem aktiviert wird. Denn es genügt bereits der “Blick des anderen“, durch den das epistemische Akteursmodell aktiviert wird, wodurch ein narratives Netzwerk wissender Selbste ausgelöst wird, die sich immer wieder gegenseitig ihre Existenz bestätigen.

Anderenorts hat Metzinger argumentiert, dass das Gedankenwandern ohne epistemisches Akteursmodell auskommt und wir etwa zwei Drittel unserer Lebenszeit im Autopiloten funktionieren, also nicht als autonome, bewusst denkende Menschen aufgrund von automatisch ablaufenden Gewohnheiten unseren Alltag bewältigen. Mentale Autonomie bedeutet für Metzinger, dass wir in der Lage sind, unser inneres Verhalten, unsere Gedanken und unsere Aufmerksamkeit zu kontrollieren, resp. aktiv zu lenken. Diese mentale Selbstkontrolle oder Selbststeuerung ist eine Fähigkeit, die in Graden verfügbar ist. Eine Meditationspraxis erhöht diese geistige Autonomie. “Dazu gehört die Fähigkeit,

Seit Jahrhunderten geht die Philosophie und gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass geistige Autonomie der alltägliche Normalzustand ist, in dem wir unseren Alltag und unser Leben bestreiten. Doch dies ist eine Illusion! Bewusst erlebte Gedanken sind in den allermeisten Fällen automatische, subpersonale Vorgänge. Doch das Modell eines epistemischen Akteurs fehlt uns nicht nur meistens in unserem Alltag, sondern darüber hinaus auch in Episoden tiefster Absorption in der Meditation in sog. non-dualen Zuständen.

Metzinger verbindet an dieser Stelle das Modell des epistemischen Akteurs mit dem Konzept der Identifikationseinheit. Im normalen Alltag identifizieren wir uns automatisch mit unserem Körper, unseren Gefühlen und dem epistemischen Akteur, dem erkennenden, denkenden Ich und der gelenkten Aufmerksamkeit. Es sind diese hier genannten Identifikationen, die sich bei der sog. “Ich-Auflösung” auflösen. Damit verschwinden wir als ein “informationsverschlingendes Wesen, das immer mehr wissen und alle Unsicherheiten reduzieren will” (S. 571).

“Dem phänomenalen Charakter von MPE fehlen dagegen das ständige Verlangen nach Neuem und auch die beiden Elemente des dynamischen Erkennens und der egoischen Identifikation.” (S. 571) In non-dualen Zuständen sind diese Identifikationen aufgehoben. Non-Dualität ist jedoch viel mehr als ein Zustand des Erlebens. Sie ist das, was Metzinger im nächsten Kapitel als einen “globalen Modus bewussten Welterlebens” (S. 571) bezeichnet.

Hier geht es weiter zum nächsten Kapitel…

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