Ein Minimalmodell des Bewusstseins
«Thomas Metzinger tut etwas noch nie Dagewesenes. Er stellt die grundlegende Frage: Gibt es eine Essenz des Bewusstseins? Und er beginnt sie zu beantworten, indem er sich auf die Erfahrung des reinen Gewahrseins in der Meditation konzentriert. Reines Gewahrsein ist unser bester Kandidat für die Essenz, nach der wir suchen… Es ist die einfachste Form von bewusstem Erleben, die es gibt… die «Konvergenzzone», in der sich spirituelle Praxis, kognitive Neurowissenschaften und die Philosophie des Geistes berühren…
Das Buch zeigt die gesellschaftliche, kulturelle und ethische Relevanz einer ernsthaften Meditationspraxis auf und schlägt den Bogen zur modernen Philosophie des Geistes. Es wird Meditierenden weltweit die Gewissheit geben, dass die Bedeutung dessen, was sie tun und erfahren, endlich auch durch die Philosophie und die Kongnitionswissenschaften anerkannt wird.»
(aus dem Klappentext)
Aus vielen Gründen ist das reine Bewusstsein philosophisch, bewusstseinstheoretisch und neurologisch von besonderem Interesse, z. B. für die Wissenschaftsphilosophie, die vergleichende, interkulturelle Philosophie, die angewandte Ethik, die kognitive Psychologie und meines Erachtens insbesondere auch für die Entwicklungspsychologie und Psychotherapie. (Siehe S. 856 ff.)
20. Zeitlosigkeit und zeitloses Fliessen
«Alles Gewesene und noch Seiende in einem zeitlosen `Moment` an einem leeren `Ort` auf der Spitze einer Nadel im Jetzt.» (S. 473)
«Eine Ich-Natur, die ohne Zeit fliesst.» (S. 473)
«Meine Erlebnisse würde ich am ehesten mit Begriffen beschreiben wie z. B. Anhalten von Zeit, Wahrnehmung von Raum ohne Zeit …» (S. 475)
«Zuerst verschwand das Selbst, dann wurde die Zeit ganz eins, sodass es keine Gegenwart mehr gab, die von der Vergangenheit und der Zukunft getrennt war. Jegliches Zeitgefühl verschwand, es war alles hier und jetzt.» (S. 478)
Thomas Metzinger greift zu Beginn dieses Kapitels seine bereits in Kapitel 19 über das “Zeugenbewusstsein” getroffene Unterscheidung zwischen MPE-Zuständen und MPE-Modiwieder auf. MPE bedeutet “Minimale Phänomenologische Erfahrung” und verweist zurück auf das reine Bewusstsein. Auch die Erfahrung der Zeitlosigkeit, das zeigt seine Analyse der Aussagen über das Erleben von Zeitlosigkeit, kann, ebenso wie das Zeugenbewusstsein, sowohl als Zustand erfahren werden, wie auch als Modus. In tiefen Absorptionsepisoden in der Meditation kann Zeitlosigkeit in einem MPE-Zustand erfahren werden, im Alltag hingegen kann Zeitlosigkeit als MPE-Modus zugleich mit zeitlichem Erleben einhergehen. Letzteres nenne Metzinger etwas poetisch “zeitloses Fliessen“.
In tiefen Meditationszuständen kann Zeitlosigkeit sowohl während Zuständen non-dualer Achtsamkeit als auch während Zuständen dualer Achtsamkeit auftreten. In non-dualer Achtsamkeit können sie ein paar Sekunden bis zu ein paar Minuten andauern. Interessant erscheint mir: Während Zuständen dualer Achtsamkeit können sie sogar noch längerdauernder sein!
Zeitlosigkeiterfahrungen können einhergehen mit Erfahrungen von Bewegungslosigkeit in tiefer Meditation, wie die folgende Aussage zeigt.
«… Ein Moment unbekannter Länge oder zeitloser Stille, völliger Bewegungslosigkeit…» (S. 475)
Was beide Arten der Erfahrung verbindet ist nicht nur die Abwesenheit der Bewegung durch die Zeit und den Raum, sondern, so Metzinger, auch die Abwesenheit einer «Selbstverortung», d. h. es kommt zu keiner Selbstlokalisation hinsichtlich eines räumlichen Bezugsrahmens oder einer zeitlichen Sequenz von Ereignissen. “Das Hier und Jetzt sind aufgehoben.” (S. 476) Das innere Narrativ und alle auf die Zukunft oder ein Ziel bezogenen geistigen Anstrengungen sind vorübergehend zu einem Ende gekommen. Der Geist geht weder Erfahrungen der Vergangenheit nach, noch schweift er in die Zukunft ab, noch ist er auf den gegenwärtigen Moment gerichtet.
Metzinger formuliert an dieser Stelle folgende interessant Hypothese: “Es könnte eine kausale Verbindung zwischen dem Ende des Denkens, dem Ende des phänomenalen Zeiterelebens und dem Ende des Atems bestehen.” (S. 47) Ich stimme dieser Hypothese durchaus zu. Meines Erachtens übernimmt in der Meditation der Atem den Lead und die Verbindung zwischen einem Meditationsobjekt und dem Atem, z. B. die Fokussierung eines Mantras wie z. B. MU im Zen, welches, wenn es sich durch Jahrelange Meditation tief mit dem Atem verbunden hat, den Atem umgehend langsam werden lässt, so als ob man einen Liftknopf drückt und der Atem (der Lift) schlagartig nach unten geht, langsamer wird. Aus Forschungen ist bekannt, dass sich der Atem in tiefer Absorption in der Meditation um bis zu 65% reduzieren kann im Vergleich zur alltäglichen Ruhezustands-Atmung. Ich möchte Metzingers Ausführungen durch einen Hinweis auf eine Bemerkung in der haṭha-yoga-pradīpikā ergänzen. Dort wird erklärt, dass die Atemreduktion das Ruhigwerden und schliesslich Verschwinden der Gedanken (Nicht-Bewegung) zur Folge hat.
“Wenn der Atem sich bewegt, bewegt sich auch der Geist... Wenn der Atem ruhig und unbewegt ist… wird auch der Geist still, und der Yogi erreicht den Zustand von Nicht-Bewegung (Sanskrit: nirodhaḥ). Dann manifestiert sich das wahre Selbst.”
HYP 2.2
Doch weiter zu Aussagen von Probanden über das Erleben von Zeitlosigkeit, das zugleich mit anderen Erfahrungsinhalten auftaucht, d. h. als MPE-Modus.
«… entstand plötzlich während der Gehmeditation in der Natur das Gefühl, die Zeit stünde still, die ganze Welt stünde still. Ich blieb stehen. Es schien, als stünde auch mein Atem still.» (S. 477)
«In einer ganz alltäglichen Situation ein Erleben von Zeitlosigkeit, Bewegungslosigkeit, Stille und Ganzsein…» (S. 477)
«Jegliches Zeitempfinden war ausgelöscht… Ausserdem hatte ich ein Erlebnis der völligen Verschmelzung mit einem Blatt, das in diesem Augenblick vom Baum fiel…» (S. 478)
«Ich fühlte eine Zeitlosigkeit und war mir gleichzeitig der Bewegung der Zeit völlig bewusst…» (S. 479)
Zum besseren Verständnis von Paradoxien in Berichten Meditierender
Im Anschluss thematisiert Metzinger ausgehend von Descartes Unterscheidung zwischen ausgedehnten, materiellen Dingen (res extensa) und nicht-räumlichen, denkenden Dingen (res cogitans) das sog. Leib-Seele-Problem. Woher kommt die philosophische Ahnung, der zufolge unser Bewusstsein nicht im physikalischen Raum lokalisiert werden kann? Seine Antwort hier stark verkürzt wiedergegeben: Weil die Cartesianische Unterscheidung intuitiv mit unserem unmittelbaren alltäglichen, subjektiven Erleben korrespondiert. “Wir erleben uns als verkörperte Wesen mit äusseren Grenzen und einer klar definierten Position im Raum. Der andere Teil, das bewusste Modell der im Moment gerade ablaufenden kognitiven Prozesse, erscheint ebenfalls im subjektiven Erleben, jedoch ohne räumliche Eigenschaften. Das denkende Selbst hat offenbar keinen Platz in der Welt.” (S. 481) Das Denken erleben wir nicht räumlich ausgedehnt im Nebeneinander, sondern im Nacheinander, “seriell”. Doch: “Hier kann eine engagierte Meditationspraxis helfen, die Dinge zu klären” – stellt Metzinger fest! Denn Meditation ist eine Erkenntnispraxis! “Die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper ist ein interessantes philosophisches Konzept, aber in einer philosophisch motivierten Meditationspraxis wird nichts dergleichen tatsächlich entdeckt.” (S. 483) “Nimmt man die kontemplative Erfahrung ernst, zeigt sich immer wieder, wie leicht abstrakte begriffliche Gegensatzpaare wie `innen vs. aussen`, `mental vs. physisch` oder `wirklich vs. unwirklich` phänomenologisch bedeutungslos werden können… Durch die Meditationspraxis wird der `Immer schon`- Charakter solcher Gegensätze allmählich abgeschwächt, sie sind dann keine unveränderlichen A-priori Annahmen mehr.” (S. 486) Gerade dies, so Metzinger, kann zu paradoxen Formulierungen z. B. im Bezug auf das Zeiterleben (sowohl Zeitlos als auch zugleich zeitliche Veränderung) in Aussagen von Meditierenden führen. “Die Gegensatzpaare [innen – aussen, mental – physisch, wirklich – unwirklich, etc.] spiegeln evolutionär erfolgreiche Vorannahmen wider, die normalerweise vom Gehirn dazu verwendet werden, sein bewusstes Modell der Realität auf einer sehr abstrakten Ebene besser zu organisieren. Jetzt [in tiefer Meditation] aber sind sie ausser Kraft gesetzt… Leerheit – die epistemische Offenheit des reinen Bewusstseins … bedeutet, dass diese Landschaft abgeflacht wurde. Teile der Vorannahmen wurden als solche erkannt und verlieren ihre formende Kraft.” (S. 486) Metzinger geht es um ein besseres Verständnis der Paradoxien in vielen Berichten Meditierender. “Sie sind nicht auf eine poetische Form von Irrationalität zurückzuführen, sondern darauf, dass die begrifflichen und kognitiven Werkzeuge, die sich in der Menschheitsgeschichte entwickelt haben… fest in dieser mentalen Landschaft aus Vorannahmen und Vereinfachungen verankert sind. Im Laufe der biologischen und kulturellen Evolution sind unsere sprachlichen und kognitiven Werkzeuge auf dem Boden meist unbewusster… abstrakter, allgemeiner Vorannahmen über die Struktur der Wirklichkeit [erwachsen.]” (S. 487) Erleben wir, dass sich diese unbewussten dualistischen Konzepte, die unser Alltagsbewusstsein strukturieren in der Meditation immer wieder auflösen, ergeben sich, so Metzinger, drei Möglichkeiten: 1. edles Schweigen, 2. die Unbestimmtheit des Weder-noch oder 3. die Formulierung von Widersprüchen und Paradoxien.
Das Importieren, schreibt Metzinger, von dualistischen Begriffen in die Beschreibung von Meditationszuständen werde der Offenheit, dem Reichtum und der Feinkörnigkeit des Erlebens in tiefer Meditation jedoch nicht gerecht. Der Begriff des “zeitlosen Fliessens” soll dazu dienen, eine ganze Bandbreite von Erlebensmöglichkeiten unterschiedlichster, nuancierterster Formen unter dieses paradox beschriebenen Zeiterlebens zu subsummieren. (S. 487f.)
In vielen Berichten Meditierender finden sich auch Aussagen wie z. B. «ganz im gegenwärtigen Moment zu sein» oder «vollständige Präsenz». Metzinger weist darauf hin, dass in der Dzogchen-Tradition des Tibetischen Buddhismus – man könnte hier auch auf die Zen-Tradition verweisen! – die «Jetztheit» der erlebten Gegenwart selbst leer ist – d. h. es geht letztlich darum, zu durchschauen, dass es sich lediglich “um eine weitere virtuelle Repräsentation von Zeitlichkeit handelt – um eine der `drei Zeiten`” (S. 489). Von unserem Zen-Hintergrund her können wir dem Beipflichten und bestenfalls noch beifügen: ja klar, logisch!
21. Raumerleben ohne Struktur, Mittelpunkt oder Peripherie
«Entgrenztes Gehaltensein.» (S. 491)
«Die Achtsamkeit richtet sich nach innen, auf den Atem oder den Körper, dadurch öffnet sich ein Raum, in dem es keine Bezugspunkte wie Aussen und Innen, Zentrum oder Peripherie mehr gibt… Trotzdem ist man präsent und handlungsfähig, also keinesfalls irgendwie weggetreten.» (S. 492)
«Dann hat es sich etwa so angefühlt, als würde ich in eine Leere gelangen, einen leeren Raum… Es ist einfach an sich sonst nichts mehr da… ich war nur noch in diesem Raum… wie ein Raumschiff im All…» (S. 493)
«Ich habe den Eindruck eines grossen Raumes ohne Grenzen, in einer Einheit von allem zu sein. Wach, verbunden, und dann auch wieder ohne Begriffe nur zu sein. Eine andere Erfahrung war, in einen leeren Raum zu fallen.» (S. 493)
«…Sein im grenzenlosen Raum.» (S. 494)
Zu den klassischen Erfahrungen reinen Bewusstseins in tiefer Meditation gehört eine nicht-physische Art von Raumerleben, wie sie auch in zahllosen Berichten Meditierender beschrieben werden. “Der Raum des reinen Bewusstseins ist nicht identisch mit dem Raum der körperlichen Bewegung… Aber manchmal wird er beschrieben als den Raum des verkörperten Erlebens in seiner Ganzheit durchdringend oder umhüllend, oder auch als `grundloser Grund`… das reine Bewusstsein selbst wird häufig als eine unbegrenzte und mittelpunktlose Erfahrung `raumhaften Gewahrseins` charakterisiert… Manchmal entsteht… das Modell eines sehr grossen Raums von epistemischen Möglichkeiten.” (S. 491) Manche Berichte sprechen davon, «schwerelos im Raum der unendlichen Möglichkeiten» oder «wie in einer schwebenden Blase» zu sein oder von einem Gefühl des «eingehüllt -Seins». (S. 492) Der Charakter der Räumlichkeit wird als unermesslich und weit, ausgedehnt und offen beschrieben, ohne jeglichen Bezugsrahmen. Der Raum des reinen Bewusstseins ist unstrukturiert und aperspektivisch. Oft tritt diese Erfahrung zusammen auf mit Beschreibungen existenzieller Leichtigkeit, Einfachheit, Helligkeit, Einheit, Klarheit, Wachheit und Verbundenheit, der Auflösung der eigenen Körpergrenzen und von Zeitlosigkeit.
Häufig wird auch berichtet von Erfahrungen des Ein- in und Austretens aus dem unendlichen Raum. Solche Erfahrungen können mit positiven Gefühlen begleitet sein. In tiefen Absorptionszuständen hingegen sind sie tendenziell emotional neutral. Manche beschreiben sie auch als ein Verschmelzen des Bewusstseins mit dem Raum.
Interessant ist, dass viele Meditierende sich auch körperlich mit dem unendlichen Raum identifizieren können – einer besonderen Form von embodiment, so könnte man sagen. Dabei kommt es auch zu Erfahrungen des «Bodenlos-geerdet-Seins» in einem zeitlosen Raum des Erkennens in dieser Anwesenheit als ein solcher Raum. (S. 498)
Im Folgenden geht Metzinger ausführlich auf die Mittelpunktlosigkeit und Unbegreiztheit als zentralen Merkmalen dieser Erfahrung ein. Einleitend zitiert er Jiddu Krishnamurti:
«Meditation ist also die Erforschung und die Entdeckung dieses Raumes ohne Zentrum. Deshalb ist sie überhaupt keine Erfahrung. Verstehen Sie?»
Jiddu Krishnamurti (1895-1986), Vierter Vortrag in Rajghat, 26. November 1964.
Der durch das Bewusstsein geöffnete Raum, den wir in tiefer Meditation ego-los erleben, so Metzinger, ist nicht der physikalische Raum, den wir im gewöhnlichen Alltag erleben, es ist nicht der Raum der “sensorischen Integration… Er ist auch nicht der Verhaltensraum, in dem das Gehirn Grenzen zwischen Objekten darstellt sowie Bewegungen, Handlungsziele und die komplexe körperliche Navigation innerhalb einer physischen Umgebung… Andererseits hat der nicht-physische Raum des reinen Bewusstseins mit ziemlicher Sicherheit eine tiefe Beziehung zu all diesen anderen Arten, in denen wir Raumhafigkeit im Geist repräsentieren.” (S. 501) “Ich denke”, schreibt er weiter, “dass bewusstes Erleben auf seiner fundamentalstenen Ebene, weit unterhalb der Ebene des egoischen Selbstbewusstseins, eine Vorhersage über die Möglichkeit von Wissen ist… ein Raum, in dem sich verschiedene Arten von Wissen manifestieren können… Wenn man so will, ist das reine Bewusstsein virtuelles Wissen in einem… zentrumslosen Raum.” (S. 501f.) Es gibt hier weder Einheit, noch Dualität, keine zählbaren Entitäten.
Metzinger stellt erneut die Frage: «Was genau ist es, das manche Bewusstseinszustände so unbeschreibbar macht?» und beantwortet sie in einer ausführlicheren Diskussion von LSD-Experimenten und dem Rekurs auf Albert Hofmann, da diese Erfahrungen weitreichende Überschneidungen mit meditativen Erfahrungen aufweisen. Ich weise hier lediglich auf diese Thematik hin. Vergl. dazu das Aldous Huxley Kapitel, Psychedelische Mystiker und mystische Psychedeliker in meinem Buch: Mystikforschung zwischen Materialismus und Metaphysik (S. 259-299).
22. Körperlose Körpererfahrung und abstrakte Verkörperung
«Eine Körperlosigkeit im Bewusstsein eines Körpers.» (S. 513)
«Mein Körper löst sich in einen Mikroschaum aus Vergänglichkeit auf und zoomt in die fraktale Kante der Gegenwart, die endlose Farnkrautwedel aus fundelndem *Jetzt*-Flaum entrollt.» (S. 513)
«Während einer Meditationssitzung… kam ich zu einem Stadium, in dem sich das Konzept meines Körpers auflöste. In meinem Geist hatten meine Hände nicht mehr die Form von Händen, und mein ganzer Körper wurde zu Punkten von Vibrationen, Kribbeln oder Temperatur…» (S. 515)
«Kurz bevor ich diesen Zustand erfahre, beginnt manchmal eine Art Schwingen oder Vibrieren in meinem Körper, meist sehr fein, aber sehr deutlich. Dann `verliere` ich die Grenzen meines Körpers; ich spüre ihn überhaupt nicht mehr. Ich dehne mich vollkommen in den `Raum`aus…» (S. 515)
“Die vielleicht grösste Überraschung bei der Auswertung der freiwillig verfassten Eigenberichte unserer Studie lag für mich darin,” schreibt Metzinger, “wie viele unserer Teilnehmer das reine Bewusstsein als eine Abschwächung oder sogar als ein völliges Verschwinden der Körpergrenzen beschrieben haben. Unerwartet stellte sich heraus, dass viele Meditierende… den grössten Teil ihrer Beschreibung… ausgedehnten Episoden, die durch einen Verlust von Körpergrenzen, durch eine Auflösung des Selbstgefühls, eine Verschmelzung von Sinnesmodalitäten sowie den Eindruck eines Eins-Werdens mit der Welt gekennzeichnet sind. Die Meditierenden beschreiben oft einen globalen Modus des Erlebens, in dem das reine Bewusstsein vom Hintergrund in den Vordergrund getreten ist. Es ist, als wäre der Hintergrund so dominant geworden, dass das, was vorher im Vordergrund gewesen ist, nun durchscheinend wird, wobei einge seiner Strukturmerkmale sanft verblassen oder sogar ganz verschwinden.” (S. 513f.) Dabei gibt es ganz verschiedene Möglichkeiten, wie sich die Körpererfahrung in etwas anderes transformieren kann. Die Körpergrenzen können sich abschwächen, machmal ist der Körper spürbar, aber seine Grenzen im Raum sind unbestimmt, die Körpergrenzen können auch verschwimmen, manchmal verschwindet die Körpererfahrung ganz. Häufig wird dabei von Vibrationen oder Kribbeln berichtet, während die Körpergrenzen sich aufzulösen beginnen. Phänomene der Schwerelosigkeit können dabei auftreten. Die sog. “Gravizeption” ist die Fähigkeit eines Organismus, das Gravitationsfeld der Erde und damit unser Gewicht wahrzunehmen und unsere Lage im Raum und Position in diesem Gravitationsfeld, was dazu führt, dass wir uns «geerdet» fühlen. Auch bei nächtlichen Flugträumen oder Träumen, bei denen man sich ohne Körpererleben träumt sowie bei ausserkörperlichen Erfahrungen wird die Gravizeption, wie auch bei Meditationserlebnissen der Schwerelosigkeit und des Verschwindens des Körpers ausser Kraft gesetzt.
Manchmal geht die Erfahrung der Körperlosigkeit einher mit Zeitlosigkeit – was auch zu einer vorübergehenden Erfahrung von räumlicher Desorientierung führen kann. Es kann eine Erfahrung von Räumlichkeit und grenzenloser Offenheit entstehen. Non-duale Leerheit, Offenheit, ein «selbstloses Selbstbewusstsein» kann entstehen. Möglicherweise, schreibt Metzinger, “existiert eine tiefere Beziehung zwischen Selbstlosigkeit, dem Verlust aller Unterscheidungen und Grenzen sowie der Erfahrung des offenen Verkörpertseins.” (S. 527)
Aufgrund der Fülle an Erfahrungsberichten zu körperloser Körpererfahrung ist dies das längste Kapitel in Metzingers Buch. Im Licht dieser Berichte diskutiert er zuletzt in Auseinandersetzung mit den Philosophen Theodor Lipps und Maurice Merleau-Ponty die spannende Frage: “Wie würde eine nicht-begriffliche Erfahrung von `sozialer Verkörperung` aussehen?” Denn die “Auflösung der Grenzen des Körpers und die Verschmelzung mit dem phänomenalen Feld können manchmal im sozialen Bereich stattfinden, etwa als vorübergehende Phase im Prozess der Verschmelzung mit dem Raum oder der Überwindung der Unterscheidung zwischen Innen und Aussen.” (S. 530) Hier ein Beispiel.
«Plötzlich fühlte ich mich ganz und gar eins mit meinen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Es gab räumlich, zeitlich, gefühlt keinen Unterschied mehr.» (S. 530)
Es gibt viele Wege, auf denen Menschen sich nicht-begrifflich mit etwas identifizieren können und zwar auf eine Weise, die unmittelbar und sehr direkt erfahrbar ist – einfach dadurch, dass sie es sind, schreibt Metzinger. “Wir können den Raum verkörpern; … wir können das reine Bewusstsein selbst [verkörpern]. Und wir haben die Fähigkeit, andere empfindende, erkennende Selbst zu verkörpern, sogar ganze Gruppen von ihnen. Wir sind physisch verkörperte epistemische Räume. Bewusste Verkörperung ist eine geistige Fähigkeit, die wir besitzen, und sie kann auf viele andere Bereiche ausgedehnt werden, über den physischen Organismus als solchen hinaus.” (S. 531)
Metzinger führt zwei neue Begriffe zur Beschreibung jener Bewusstseinszustände ein, die reines Bewusstsein in Bezug auf die Körpererfahrung beschreiben: “Körperlose Körpererfahrung” während non-dualen, tiefen Meditationszuständen und “abstrakte Verkörperung” für paradoxe Erfahrungen körperloser Körpererfahrung und gleichzeitiger Identifikation mit etwas anderem. Er verwendet den Begriff der «abstrakten Verkörperung» analog zu den vorher schon verwendeten Begriffen “zeitlose Zeiterfahrung”, “Stille im Erleben von Klang”, “Bewegungslosigkeit in der Bewegung” oder “Leerheit in einem gerade entstehenden Gedanken”. Abstrakte Verkörperung findet nicht über Introzeptionen aus dem Körperinnern statt, es ist keine Wahrnehmung, keine Sinneserfahrung an welcher bestimmte Rezeptoren beteiligt wären. Es handelt sich dabei vielmehr um eine “besonders tiefe Form der Verkörperung”, die “subtil und tiefgründig ist“. (S. 534) Sie stellt bestimmte Aspekte des körperlichen Vorgangs dar, “durch den das Gehirn sich selbst aktiviert oder aufweckt”, es handelt sich sozusagen um einen “Wachheitskörper, der aus einer abstrakten Ebene unseres bewussten Selbstmodells besteht, welches die Unterscheidung zwischen dem, was sich innerhalb, und dem, was sich ausserhalb unseres biologischen Körpers befindet, transzendiert hat oder ihr immer schon vorausgegangen ist.” (S. 534)
“Vielleicht ähnelt Meditation einem Prozess, in dem man lernt, erst von Moment zu Moment auf dem Wellenkamm des reinen Bewusstseins zu surfen und dann den Ozean zu verkörpern?” (S. 535) Ich lasse die auf diese poetische Formulierung darauf folgende spannende Diskussion Metzingers darüber was Identifikationseinheiten in der 0. und 1. Person Perspektive genau sein könnten hier nun beiseite, da auch dies den Rahmen dieser Blogbeiträge bei weitem sprengen würde. Vielleicht noch so viel zum Schluss: Metzingers neurologische Neudeutung des Reinkarnationsgedankens: sie geschieht in jeder Minute unseres normalen Alltagslebens, immer und immer wieder in unserem Gehirn, indem wir von einer vergänglichen Einheit der Identifikation zur nächsten wechseln. Das ist saṃsāra (Sanskrit) – das ziellose Umherwandern unseres Bewusstseins von einer Identifikation zur nächsten. Dabei handelt es sich “um ein selbstorganisierendes biologisches oder mentales System… [,welches] ein enormes Mass an bewusstem Leiden erzeugt”. (S. 542f.) Gibt es einen Weg, saṃsāra zu verlassen? Metzingers Fazit auf diese Frage: “Im Laufe der Zeit verändert die systematische Wiederholung der MPE-Erfahrung die ganz Person und den sie umgebenden sozialen Kontext.. Unsere … Daten zeigen, dass die MPE manchmal tatsächlich zu dem werden kann, was ich … das `wahre Selbst` als eine `nicht-egoische Einheit der Identifikation` bezeichnen werde.” (S. 552f.)
Hier gehts weiter zum nächsten Teil…