Reines Bewusstsein ist nicht begrenzt auf unser Wachbewusstsein. Darüber wird bereits in den ältesten Schriften der Menschheit, den Veden berichtet, genaugenommen im Atharva Veda, im Muṇḍaka Upaniṣad. Es ist das sich durch alle Zustände durchhaltende Zeugenbewusstsein (Sanskrit: sākṣin). Sākṣin ist sowohl eine Erfahrung als auch ein philosophisches Konzept. Von Sākṣin wird gesagt, dass es alles Wissen möglich macht und nie selbst zum Objekt des Wissens werden kann . Sākṣin ist das reine Element des Gewahrseins in allem Wissen und scheint durch sein eigenes Licht; es ist selbstleuchtend. Sākṣin unterscheidet sich vom empirischen Individuum, das in den drei Zuständen des Wachens, Träumens und des traumlosen Tiefschlafs gefangen ist. (Der Elefant und die Blinden, S. 403ff.)

Das Konzept von Sākṣin findet sich in verschiedensten hinduistischen Strömungen, u. a. im Shivaismus, im Advaita Vedanta Gaudapadas und Shankaras (8Jh.), im Yoga Sūtra Patanjalis, im Buddhismus, insbesondere im Tantrischen Buddhismus und heutzutage auch in der Transzendentalen Meditation (TM).

18. Zeugenbewusstsein

«Die Welt, reflektiert in einem Spiegel ohne einen wahrnehmenden Beobachter.» (S. 399)

«Ein Eindruck von `Da sind unpersönliche Augen im Raum`.» (S. 399)

«Ein Gefühl, unbegrenzt zu sein und zu beobachten, ist da, umgeben von und Teil des unbegrenzen Raumes.» (S. 401)

«Wenn der Geist still ist, erkennen wir uns selbst als den reinen Zeugen. Wir ziehen uns vom Erfahrnden und seiner Erfahrung zurück und stehen abseits im reinen Gewahrsein, das zwischen und jenseits der beiden ist. Die Persönlichkeit, die auf Selbstidentifikation beruht, auf der Vorstellung, etwas zu sein: `Ich bin dies, ich bin das`, besteht weiter, aber nur als Teil der objektiven Welt. Ihre Identifikation mit dem Zeugen reisst ab.» (S. 403)
Sri Nisargadatte Maharaj (c.a. 1897-1981), Ich bin das

Die Gesamtheit aller Erfahrungsinhalte erscheinen so, als ob sie von einer zeitlosen, unpersönlichen, wissenden “Anwesenheit”, resp. einem passiven “Zeugen” oder “Beobachter” beobachtet würden. Zeugenbewusstsein ist eine Erfahrung, die weder inhaltsspezifisch noch ein herkömmlicher Zustand des Bewusstseins ist, bei dem man seine Aufmerksamkeit bewusst lenkt, Ziele festlegt und auswählt, sondern ein “Bewusstseinsmodus“, schreibt Thomas Metzinger. Es handelt sich dabei um “eine globale Art und Weise, in der die Wirklichkeit im Erleben erscheint: Die Welt spiegelt sich in einer allumfassenden Qualität von unbegrenztem, nicht-selektivem, nicht-beurteilendem und nicht-begrifflichem Erkennen” (S. 399).
«Das Zeugenbewusstsein kann spontan und mühelos auftreten, ausserhalb der formalen Praxis und es kann mehrere Stunden andauern.» (S. 400)

«… Ich tat meine normale Arbeit im Büro, war aber gleichzeitig Zeuge meines Tuns. Der grosse Vorteil dabei war, dass ich überhaupt nicht müde wurde. Ich war wie von aussen unberührbar. Der Geist war voll wach und klar. Es flutschte alles wie von selbst, als lief intuitiv ab und war vollkommen richtig…» (S. 400)

Manchmal geht dem Zeugenbewusstsein mit der Erfahrung eines grenzenlosen raumhaften Bewusstsein einher. Zuweilen kann das Zeugenbewusstsein auch absichtlich beendet werden. Das Zeugenbewusstsein kann sowohl in dualen wie auch in non-dualen Zuständen auftreten. Gelegentlich gibt es Fälle von Zeugenbewusstsein bei oder nach Unfällen und Notfällen. Hier ein sehr besonderer Bericht:

«Ich sass nach der Meditation in einem kontemplativen, entspannten Zustand im Garten… neben mir spielte ein dreijähriges Kind, aber ich war mit nichts beschäftigt und dachte an nichts. Plötzlich stürmte ein junges Rind von nebenan durch den Garten – ich dachte nur, oh, das könnte für das Kind gefährlich werden, aber ganz unaufgeregt, ohne dass sich dieses kontemplative Gefühl verändert hätte, ich hatte einfach nur das Gefühl, da ist jetzt Handlungsbedarf. Das war mein einziger Gedanke, alles andere passierte wie von selbst. Ich entschied nichts, ich dachte nichts, ich hatte keine Angst oder Aufregung (und ich habe durchaus Angst vor übermütigen Kühen!) Ich handelte wie in einem Traumzustand, es gab auch kein Gefühl von Zeit oder Ich, ich hatte einfach nur die völlig neutrale Absicht, das Kind zu schützen, ohne jede Emotion oder Denken… Ich ging völlig gelassen auf die heranstürmende Kuh zu, und es war so unglaublich: Die Kuh blieb einfach aus dem Galopp heraus vor mir stehen, und ich konnte sie einfach anfassen und halten, und es gab diese Begegnung, dieses Gefühl von Nicht-Getrennt-Sein von dieser Kuh… `es` handelte, und ich schaute dabei zu… Mein Körper handelt so präzise, so perfekt und eigenständig, intuitiv, ohne dass ich auch nur Gelegenheit hätte, einen Gedanken anzufangen. Bis mein Bewusstsein begriffen hat, was passiert, konnte `ich` meinen Körper bei seiner absolut präzisen Handlung beobachten, ohne dass ich nur einen Augenblick Angst oder irgendeine Emotion dabei empfinde…» (S. 402f.)

Metzinger macht darauf aufmerksam, dass die Erfahrung des Zeugenbewusstseins auf unterschiedliche Weise metaphysisch interpretiert wird, z. B. kann der Zeuge als Aspekt der Realität selbst interpretiert werden; er könnte die selbsterkennende Welt als Ganze oder Gott sein. “Für praktisch jede metaphysische Theorie, die Philosophen entwickelt haben… existiert ein veränderter Bewusstseinszustand oder sogar ein Modus des bewussten Erlebens, der direkt mit der jeweiligen Theorie korrespondiert … wenn man sie naiv-realistisch interpretiert, [und kann] später durch eine bestimmte metaphysische Theorie ausgedrückt werden, denn es gibt eine Phänomenologie des Idealismus, eine Phänomenologie des Panpsychismus und so weiter” (S. 405). Auch diese Diskussion werde ich hier nicht diskutieren, da sie den Umfang dieser Blogbeiträge bei weitem sprengen würde.

Metzinger diskutiert anschliessend Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Erfahrungen des Zeugenbewusstseins im Meditationskontext und Erfahrungen der Depersonalisation und Derealisation bei psychiatrischen Erkrankungen. (S. 410ff.) Dabei macht er insbesondere darauf aufmerksam, wie wichtig die Theoriekontamiation in solchen Fällen sein kann, d. h. ob solche Erfahrungen als beunruhigend und Panik auslösend oder als heilsam und positiv erlebt werden. “Es kann ein Syndrom entstehen, das je nach der Haltung, die die Person sich selbst und dem daraus resultierenden Phänomen gegenüber einnimmt, entweder als etwas erlebt wird, das begehrens- und erstrebenswert ist, oder als etwas, vor dem man sich fürchten muss und das als Krankheit bezeichnet wird.” (S. 411)
Was in diesem Zusammenhang meiner Ansicht nach leider fehlt, ist eine Diskussion der Erfahrung eines unbeteiligten inneren Zeugen, der in traumatischen Lebenssituationen entstehen kann, als Folge einer Dissoziation, bei dem das Bewusstsein den schmerzenden Körper verlässt um sich zu schützen. (Siehe dazu meinen Blog-Beitrag: Zen-Meditation und Dissoziation – zen-integral) Denn solchen Menschen begegnet man viel öfter in Meditationskontexten, als Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, die an Depersonalisierungs- und Derealisationserfahrungen leiden. Zen-Lehrende sollten wissen, wie sie solche Menschen erkennen und unterscheiden können und wie sie sie gelingend begleiten können! Auf diesen wichtigen Punkt möchte ich hier nur hinweisen.

19a. Reines Bewusstsein im traumlosen Tiefschlaf

«Es gibt kein Wachsein, es gibt kein Schlafen, es gibt nur Sein.» (S. 417)

«… Die Erfahrung selbst geschah, als ich physisch schlief. Ich `wachte auf` und stellte fest, dass ich im Schlafzustand meditierte. Ich hatte kein Bewusstsein von meinem Körper oder der äusseren Umgebung. Das Konzentrationsniveau war sehr hoch, wie ein Magnet, und ich bemerkte, dass ich spontan, mühelos und automatisch meditierte und dass ich wach war… Ich beschloss, meinen Fokus auf das Licht und das Gewahrsein zu richten, das in diesem Moment präsent war. Das Licht und das Gewahrsein wurden hyperpräsent, und ich fühlte mich wacher als je zuvor im normalen Wachbewusstsein… Je stärker das Licht wurde, desto stärker wurde das Gewahrsein, und umgekehrt…» (S. 421)

«Im traumlosen Schlaf – hell, inhaltslos, grenzenlos, lebendig…» (S. 422)

«Das objektlose Selbst erscheint im leeren Raum reinen, inhaltslosen Gewahrseins wie eine `Mitternachtssonne`…» (S. 422)

«Im Tiefschlaf kann ich den Wind oder den Regen hören. Das fing an, als ich zwölf Jahre alt war. Mein Körper schläft, mein Geist ist wach. In der Meditation bin ich eins mit allem, Geist, Körper und der Welt. Das Gefühl des Einsseins…» (S. 423)

«Nicht nur führt das reine Bewusstsein dazu, dass man sich noch wacher fühlt… Sehr wach zu sein kann das Auftreten der Erfahrung des reinen Bewusstseins wahrscheinlicher machen.» (S. 417)

Die Qualität des Schlafs verändert sich im Laufe des Lebens. Ganz besonders kann sie sich in Zeiten intensiver Meditationspraxis, d. h. in längerdauerenden Schweige-Retreats, schreibt Metzinger. Ich möchte hier anfügen: 3- und mehr-Monats-Retreats und insbesondere in Dunkelretreats. Letztere haben meiner Erfahrung nach ein besonders grosses Potential für die Entwicklung reinen Bewusstseins, resp. des Zeugenbewusstseins während des REM-Schlafs, Non-Rem-Schlafs und Tiefschlafs. Die Trauerinnerung kann sich enorm verbessern und es können spontane luzide Träume auftreten und Wachträume im Non-Rem- und Tiefschlaf.
“Das luzide Träumen”, schreibt Metzinger, ist eine Art «geheimer Hintertür» oder «Abkürzung» ins reine Bewusstsein. (S. 419) Er formuliert folgende interessante Hypothese: “Reines Gewahrsein könnte durchaus am häufigsten im Wachzustand, am seltensten im traumlosen Tiefschlaf und am leichtesten in einem luziden Traum erreicht werden.” (S. 419f.)
Von den 1403 Teilnehmern der Studie bestätigten nur 25 eindeutig und unmissverständlich, während des traumlosen Tiefschlaf ein reines Gewahrsein erlebt zu haben (9 aus der TM, 7 Dzogchen, 8 Vipassana, 7 Shamantha, 3 Zen und Metta-Praktizierende). (S. 420) Dabei beschreiben sie, wie diese Erfahrungen im Tiefschlaf mit “Einheit, Selbstlosigkeit, Raumhaftigkeit, Non-Dualität, Zeitlosigkeit, Helligkeit, Eigenstrahlkraft, Inhaltslosigkeit, Unbegrenztheit und Lebendigkeit” einhergehen. (S. 421)
“Manchmal wird der Wachschlaf auch als “witnessing sleep” bezeichnet, weil es nach dem Aufwachen rückblickend so scheint, als wäre ein stiller, unpersönlicher Beobachter während Teilen der Nacht anwesend gewesen, jedoch ohne jede begriffliche Einsicht in die Natur des Zustandes selbst.” (S. 425) Dasselbe gilt meiner Erfahrung nach auch für den luziden Traum. “Witnessing sleep” bedeutet nicht-handelnder, nicht-intentionaler Zeuge sein, sei es im Non-Rem-Schlaf, Tiefschlaf oder im Rem-Traum-Schlaf. Dieser Zustand unterscheidet sich vom luziden Traum, bei dem man bewusst und absichtsvoll handeln und den Traum verändern kann.
Metzinger zitiert Ramana Maharshi:

«Es ist weder Schlaf noch Wachsein, sondern eine Zwischenstufe zwischen beidem. Es gibt dann die Bewusstheit des Wachzustandes und die Stille des Schlafes. Es wird jagrat-sushupti genannt… Nennen Sie es wachsen Schlaf oder schlafende Wachheit oder schlafloses Wachen oder wachlosen Schlaf. Es ist nicht dasselbe wie Schlaf oder Wachsein für sich genommen. Es ist atijagrat (jenseits von Wachheit) oder atisushupti (jenseits von Schlaf).» (S. 426)
Ramana Maharshi (1879-1950), Vortrag 609, 18. Januar 1939

Metzinger erörtert und betont die Glaubwürdigkeit solcher Berichte und formuliert ein Forschungskonzept zum traumlosen Tiefschlaf, welches “zu einem entscheidenden Durchbruch in der Bewusstseinsforschung führen” könnte, “zu einer Minimalmodell-Erklärung…” (S. 428).

19b. Reines Gewahrsein und luzides Träumen

«Hingelegt und fast sofort in die Basale Klarheit eingerastet.» (S. 451)

«Die Luzidität war so schockierend, dass ich die Erfahrung machte, aus dem Traum herauszufallen, hinunter in einen Raum, der eine weitere, grenzenlose, inhaltslose Leere war, aber auch vollständig mit reinem Bewusstsein gefüllt.» (S. 451)

«Ich hatte einen luziden Traum. Plötzlich begann der Traum zu zerfallen. Die Traumbilder erschienen, mit langen Momenten der Leere dazwischen. Ich geriet in Panik und hatte Angst loszulassen. Es war, als ob ich immer wieder vergass, wer ich war. Ich erlebte nur Leere, und plötzlich erinnerte ich mich wieder. Ich hatte Angst loszulassen. Nach einigem Ringen entspannte ich mich schliesslich in die Leere und im Nichtwissen. Nachdem ich das für wer weiss wie lange erlebt hatte, wachte ich in meinem Bett auf. Ich fühlte mich danach grossartig!» (S. 452)

«Nachts erwachte ich und bemerkte, dass ich weiter schlief. Mir wurde bewusst, dass ich, während ich schlief und träumte, gleichzeitig gänzlich wach war…» (S. 453)

Ich hatte meine ersten spontanen luziden Träume während dreimonatigen Intensivretreats. Die hohe Wachheit, die sich während diesen langen Meditationszeiten einstellt, hatte sich in den nächtlichen Traum übertragen. So war ich bei meinem ersten luziden Traum hellwach, überwach jedoch ohne zu wissen, dass ich in einem Traum bin. Häufig wird der luzide Traum definiert, als ein Traum, bei dem man weiss, dass man träumt. Dies ist auch die Definition, von der Thomas Metzinger ausgeht. Doch das war bei meinem ersten Traum nicht so. Ich war einfach hellwach im Traum und dachte irrtümlich, ich sei in einer Psychose, weil ich zu viel meditiert habe.
“Die Beziehung zwischen Luzidität im Traum und der Erfahrung reinen Bewusstseins”, schreibt Thomas Metzinger, “ist komplex”. (S. 451). Es gibt verschiedene Formen luziden Träumens. Luzidität im nächtlichen Traum kann unterschiedliche Intensitätsgrade haben, angefangen bei präluziden Träumen, in welchen bloss ein vages Gefühl vorhanden ist, dass hier irgendwas nicht stimmt, über ein bewusstes Wissen, in einem Traum zu sein, bis hin zum luziden oder superluziden Bewusstsein, bei dem man hellwach ist und bei klarem Bewusstsein, dass man in einem Traum ist und das Traumskript mit seinen Absichten und mit Wünschen verändern kann.
Die “wichtigste Unterscheidung”, schreibt Metzinger, ist diejenige zwischen dualer Luzidität, bei dem ein Traumselbst vorhanden ist, das Wünsche und Intentionen hat, d. h. eine 1., resp. 3. Person Perspektive, und non-duale Luzidität – im Tibetischen Buddhismus “clear light dreaming” genannt. (S. 452)
Metzinger stellt fest, dass luzide Träume häufig in Zusammenhang mit intensiver Meditationspraxis auftreten. Er diskutiert 10 “Entdeckungen” (S. 457):

1. “Ein klares erstes Forschungsergebnis lautet, dass ein … Pfad vom luziden Träumen in eine vollständige Absorptions-Episode des reinen Bewusstseins hinein eindeutig existiert.” (S. 452)

2. “… die Qualität einer hellwachen Präsenz” während des luziden Traums wird nicht vom “Traumselbst fabriziert oder aktiv konstruiert”, sie tritt “normalerweise spontan auf” (S. 543)

3. Beim “allmählichen Übergang zum reinen Gewahrsein” kann eine Qualität der “De-Immersion, des Auftauchens und Sich-Befreiens” stattfinden, der “Nicht-Identifikation, des Zeigenbewusstseins und der Virtualität”.  (S. 453)

4. Der Übergang vom reinen Bewusstsein zum luziden Träumen kann reversibel sein. Die Luzidität kann in diesen wechselseitigen Prozessen zwischenzeitlich auch wieder verloren gehen.

5. Es gibt auch Übergänge vom nicht-luziden Träumen zu Erfahrungen des reinen Bewusstseins.

6. Die Beschreibungen des reinen Gewahrseins im luziden Traum und während des Wachseins  ähneln sich: “lebendig, energiegeladen, vibrierend, euphorisch, … visuelle Bilder…” (S. 456)

7. Die Luzidität im nächtlichen Traum kann “den ganzheitlichen und globalen Charakter des Zeugenbewusstseins besitzen” (S. 456).

8. “Menschen, die das luzide Träumen aktiv üben, erleben in Übergangsphasen oft Perioden des reinen Bewusstseins” (S. 456), d. h. man kann z. B. mit wachem Geist einschlafen und erleben, wie der Körper in die Schlafparalyse gleitet, unbeweglich wird, wie man mit reinem Bewusstsein in absoluter Dunkelheit ist und dann plötzlich ein Traum beginnt oder luzide zwischen zwei Träumen bleiben kann, auch wenn gerade nichts stattfindet.

9. “Übergangsphasen, die die wache Präsenz des reinen Gewahrseins auslösen, können auch während Perioden der Erschöpfung in der kontemplativen Praxis selbst oder beim Eintritt in den Schlafzustand auftreten.” (S. 457)

10. Eine Vielzahl komplexer Erlebnisse ist möglich, z. B. Meditation im Traum, woraus ein reines Bewusstsein resultiert. Ich selbst habe in meinen luziden Träumen Koans in den Traum hinein gesprochen. Der Traum hat diese dann auf seine Weise inszeniert und manchmal ist daraus ein reines Bewusstsein entstanden. Im Kontext Christlicher Mystik schildert Meister Eckhart einen ähnlichen Traum:

«Einem Mann erschien es wie im Traum – es war ein Wachtraum -, dass er mit dem Nichts schwanger wurde wie eine schwangere Frau, und in diesem Nichts wurde Gott geboren; er war die Frucht des Nichts.» (S. 463)
Meister Eckhart (1260-1328), Predigt Surrexit autem Saulus de terra

Metzinger diskutiert anschliessend ausführlich Experimente aus den kognitiven Neurowissenschaften, die zeigen, dass visuelle ausserkörperliche Erfahrungen, Verdoppelungen des eigenen Körpers gleichzeitig an zwei Orten oder in schnellem Wechsel erlebt werden können. Es gibt also Erfahrungen der “Bi-Lokalisation” des eigenen Körpers, die sogar in Experimenten künstlich hervorgerufen werden können. Solche Beobachtungen können hinsichtlich reiner Bewusstseinserfahrungen, schreibt er, bedeutsam sein, da reines Bewusstsein “im Grund unbegrenzt ist – im Sinne eines Potentials, sich im Raum auszudehnen” und eine “globale Erfahrung von raumhaftem Gewahrsein… gleichzeitig überall und nirgends” zu sein. (S. 466)
Für soziale Kontexte, schreibt Metzinger, kann diese Fähigkeit zu schnellen Wechseln zwischen verschiedenen Standpunkten und Erlebnisperspektiven sehr wichtig sein, z. B. «als Teil der Entwicklung von Fähigkeiten wie Mitgefühl und willentlicher Perspektivenübernahme». (S. 466) Diese Fähigkeit, die durch Meditation, aber auch im luziden Träumen trainierbar ist, scheint mir sehr wichtig zu sein, gerade hinsichtlich unserer Fähigkeit, uns zu entwickeln! Wie ich in meinem Buch «Achtsame Selbstentwicklung» zeige, besteht Entwicklung gerade darin, die eigene 1. Person Perspektive verlassen zu können, eine 2., 3., 4. Systemtheoretische Perspektive einnehmen zu können und letztlich alle Perspektiven zugunsten der 0. Person Perspektive des reinen Bewusstseins hinter sich zu lassen.
Metzinger diskutiert im Folgenden ein zukünftiges Forschungsprojekt, worauf ich hier nicht eingehe.

Interessant scheint mir hier wiederum die Theoriekontamination verschiedener Meditationstraditionen zu sein. Während im Zen Tiefschlaf, Traum und luzides Träumen weitgehend unberücksichtigt bleiben, nicht wahrgenommen werden, unwichtig sind, existiert gerade im Tibetischen Buddhismus und in der Transzendentalen Meditation (TM) eine grosse Wertschätzung dieser Zustände im Kontext der Meditationspraxis. Einzelne Zen-Traditionen können sich leider auch heute noch zu geschlossenen Meinungssystemen entwickeln, die, bedingt durch Gruppenzwang andersartige Erlebnisweisen vollkommen ausblenden und für irrelevant erklären, um genau darin ihre Besonderheit und Einzigartigkeit zu betonen. Ich hingegen finde es in der heutigen Zeit wichtig, dass sich Meditationstraditionen wie Zen zu offenen Meinungssystemen entwickeln und gerade in dieser Offenheit für Andersartigkeit ihre Besonderheit und Einzigartigkeit erkennen.

Hier gehts zum nächsten Teil: Zeitlosigkeit, Raumlosigkeit und Körperlosigkeit im reinen Bewusstsein

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