Im letzten Blogbeitrag habe ich u. a. Kapitel 18 von Metzingers Buch über Erfahrungen innerer Helligkeit im reinen Bewusstsein besprochen. Erfahrungen innerer Helligkeit in tiefem samādhi (Pali für “Versunkenheitsbewusstsein”) faszinieren mich schon lange, weshalb ich im Licht von Metzingers Erkenntnissen eigene Erlebnisse innerer Helligkeit reflektieren möchte, um diese besser oder anders verstehen zu können und meinen Blick darauf zu erweitern. Auch werde ich in diesem Zusammenhang Metzingers Hypothese, dass wir beim Erleben reinen Bewusstseins in tiefer Meditation räumliche und körperliche Entgrenzung erleben im Hinblick auf eigene Meditationserlebnisse genauer untersuchen, differenzieren und durch weitere Überlegungen kritisch erweitern.

Eigene Erfahrungen innerer Helligkeit

Ich möchte hier drei Erlebnisse innerer Helligkeit während der Meditation schildern: 1. Eine Art Nahtoderlebnis während der Meditation, 2. Helligkeitserlebnisse während der Meditation in Zen-Sesshins und 3. Helligkeitserlebnisse während der Meditation im Dunkelretreat. Dunkelretreats kommen aus dem Tibetischen Buddhismus und dauern bis zu 49 Tage in denen man in einem absolut dunklen Raum verbringt und meditiert. Dabei bekommt man von einer Begleitperson 2x Essen pro Tag und kann mit dieser über seine Erlebnisse sprechen und wird angeleitet. Ich verbringe in der Regel 10 Tage in einem Dunkelretreat. Weniger Zeit in der Dunkelheit zu verbringen halte ich nicht für so empfehlenswert, um ein breiteres Spektrum von Erfahrungen zu erleben, da es einige Tage braucht, damit sich die Physiologie des Körpers und des Gehirns umstellen.

  1. Während meines ersten Sesshins habe ich ganz extrem unter Knieschmerzen gelitten. Typisch für Zen riet mir meine Zenlehrerin damals im Dokusan (Einzelgespräch), ich solle die Schmerzwahrnehmung bewusst mit dem Atem verbinden und damit eins werden. Ich meditierte auf diese Weise und erlebte, dass der Schmerz meinen Fokus und meine Wachheit erhöht, wodurch mein Atem zunehmend langsamer wurde und der Schmerz zeitweise zugleich vorhanden und nicht-vorhanden war, wenn ich ganz still und unbeweglich meditierte. Es war wie auf Messers Schneide: hier Schmerz, da kein Schmerz. Am vierten Tag des Sesshins veränderte sich plötzlich meine Atmung, ohne dass ich sie bewusst steuerte. Der Atem blieb langsam, doch er wurde tiefer und länger. Nach einer gewissen Zeit verschwand von einem Moment auf den anderen plötzlich meine Körperwahrnehmung und mit ihr diese unglaublichen Schmerzen, der Sehsinn löste sich wie ein Puzzle auf, bei dem alle Puzzleteile nach und nach aus dem Bild fallen und als letztes verschwand der Gehörsinn, ebenso puzzleartig wie der zuvor der Sehsinn. Es wurde dunkel aber mein Bewusstsein war aufgrund der vielen Stunden der Meditation mit den starken Schmerzen hellwach und über-klar, zeitlos, leer und ohne Inhalt. Dann fiel ich durch einen schwarzen Tunnel, an dessen Ende ein helles weisses Licht zu sehen war und landete in diesem grenzenlos weissen Licht. Ich weiss nicht, wie viel Zeit verging und wie lange ich in diesem Licht verbrachte. Denn das Zeitempfinden war vollkommen abwesend. Plötzlich setzten sich genauso puzzleartig, wie sie verschwunden waren, meine Sinnesempfindungen wieder zusammen: mein Körpergefühl, der Gehörssinn und zuletzt der Sehsinn. Zu meinem Erstaunen sah ich die Gesichter der Assistierenden über mir, die sich über mich beugten und sich um mich kümmerten. Erst jetzt realisierte ich, dass ich von meinem Schemel, auf dem ich zur Meditation kniete, rückwärts auf den Boden gesunken oder gefallen sein musste. Ich habe diesen Fall nicht mitbekommen.
  2. Ich kenne innere Helligkeit bei der Meditation auch während Sesshins, wenn ich mit meiner ganzen Aufmerksamkeit vollkommen absorbiert bin in meinem Koan MU, mein Atem sehr langsam geht, die Verdauung plötzlich angekurbelt wird, mein Bauch warm wird, sich meine Oberschenken von innen wie “zusammenziehen” – in der Regel während der 3. Meditationsperiode bei Meditationsperioden von 25 Minuten Dauer mit je 5 Minuten Gehmeditation dazwischen. Wenn es in den Morgen- oder Abendstunden noch dunkel ist im Meditationsraum und ich mit geschlossenen Augen meditiere und es innerlich hell wird, öffne ich die Augen und merke, dass die Helligkeit nicht von aussen kommen kann, weil es aussen dunkler ist, als innen, mit geschlossenen Augen. Dies ist sozusagen mein Test, um zu schauen wo die Lichtquelle ist: aussen oder innen.
  3. Dieselbe jedoch viel intensiver wahrgenommene innere Helligkeit entsteht bei mir im Dunkelretreat. Je tiefer mein Absorbtionsgrad ist, desto mehr entsteht innere Helligkeit aus der Absorbtion heraus. Im Laufe von 2-3 Tagen in vollkommener Dunkelheit entstehen in diesem hellen Raum aus der Absorbtion in MU kommend zwischen Zeiten intensiver, absoluter Stille immer wieder innere Bilder, anfangs ohne Farben und mit der Zeit kommen immer mehr Farben; Anfangs einzelne Bilder, ähnlich wie hypnagoge Bilder vor dem Einschlafen, dann zunehmend dreidimensionale, filmartige Szenerien und schliesslich ausgeprägte Wachträume, die sich kaum von nächtlichen Träumen unterscheiden. Das Traumbewusstsein ergiesst sich in den unendlichen Raum, den die innere Helligkeit bereitet. Daher ist der kleine Raum, die vielleicht 3×3 Meter, in denen man sich im Dunkelretreat befindet, überhaupt nicht einengend. Die innere Helligkeit eröffnet einen unendlichen, grenzenlosen Raum inneren Erlebens, der sich mit langandauernden Zeiten tiefer innerer Stille abwechselt.

Diskussion vor dem Hintergrund von Metzingers Buch und darüber hinaus

Überlegungen zu Erfahrung 1: Eine Art Nahtoderfahrung während der Meditation

Aus der Meditationsforschung wissen wir heute, dass Meditation das Schmerzempfinden und die kognitive Verarbeitung von Schmerz reduzieren, d. h. Schmerzen werden als 20-25% weniger intensiv empfunden und sie werden nicht von Gedanken begleitet, welche das Schmerzerleben verstärken könnten. Meditation führt zu einer Ausschüttung von schmerzvermindernden Substanzen im Gehirn, wie Opiaten, DMT, Dopamin, welche vermutlich in letzter Konsequenz bei der Schmerzbewältigung in meiner Meditation einen Zustand des vollständigen Aufhörens von Wahrnehmung, Denken und Fühlen, Zeitempfinden etc. zur Folge hatten. Dabei wird, ähnlich wie beim REM-Traum-Schlaf, bei dem im Pons, der sog. “Brücke” im Stammhirn, die Verbindung zwischen dem Bewusstsein und dem Körper unterbrochen wird, bei einem Nahtoderlebnis, die Verbindung zum schmerzenden Körper unterbrochen und die Schmerzempfindung tritt nicht mehr ins Bewusstsein und der Körper kann sich entspannen, wobei vermutlich eine Kaskade von automatisch ablaufenden Selbstschutz- und Selbstheilungsfunktionen in Gang gesetzt werden. 2022 hat Wilfried Kuhn einen Artikel mit dem Titel: Neurobiologie der Nahtoderfahrung: eine kritische Analyse auf die Ausschüttung entsprechender chemischer Substanzen aufmerksam gemacht. (Siehe: DOI:10.38072/978-3-928794-66-4/p6)
Im Buddhismus spricht man vom nirodha-samāpatti (Pali) oder saññā-vedayita-nirodha, übersetzt als «Erlöschungszustand» oder «Erreichen des Erlöschens», wenn kein Denken, keine Emotionen und Körperempfindungen, kein Zeitempfinden und keine Subjekt-Objekt-Struktur mehr vorhanden ist. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen unbewussten Zustand, wie häufig angenommen wird, sondern um einen Zustand hellwachen Bewusstseins eines non-dualen, reinen Bewusstseins, das mit einem hellstrahlenden Licht oder einer Leuchtkraft des reinen Bewusstseins einhergeht. Diese Leuchtkraft des Bewusstsein wird im Buddhismus als  prabhāsvaratā (Pali) bezeichnet, was mit «hell leuchtender Geist» oder «Geist des klaren Lichts» übersetzt wird. Während Menschen bei Nahtoderlebnissen in hellem Licht teilweise autobiographische Lebensszenen oder andere Gestalten vor ihrem inneren Auge sehen oder sich selbst und andere am Unfallort oder im Krankenhaus von oben im reinen Zeugenbewusstsein sehen, hatte ich keine solchen visuellen Wahrnehmungen. Im Bardo-Thödol, dem Tibetischen Totenbuch, welches aus dem 8. Jahrhundert stammt, heisst es: “Diese hell leuchtende Leerheit ist die strahlende Essenz deines eigenen Bewusstseins…” Im Tibetischen Buddhismus gibt eine Reihe von Berichten, die eine starke Ähnlichkeit zu Nahtoderfahungen aufweisen. Dort heissen Menschen, die solche Erfahrungen berichten «Delogs» (Tibetisch). “Delog” bedeutet übersetzt: “Die vom Tod zurückgekehrt sind”. Daniel Woyan von der Oxford University hat 2016 eine solche Delog-Erfahrung mit Nahtoderfahrungen aus verschiedenen Kulturen verglichen und mögliche Erklärungsansätze aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten thematisiert in seinem Aufsatz: Tibetische Nahtoderfahrungen. Eine Fallstudie zum Phänomen der ‘Das log (འདས་ལོག). Siehe: (PDF)
Bei der Wahrnehmung und Bewertung von Erfahrungen innerer Helligkeit spielt die Theoriekontamination der jeweiligen Meditationstradition eine wichtige Rolle. Im Zen werden solche Erfahrungen in der Regel gar nicht wahrgenommen und ignoriert, weil sie schlichtweg nicht ins Erlebnisraster der kulturell akzeptierten Erfahrung von “Satori” und “Sunyata” passen. Im Tibetischen Buddhismus hingegen werden sie ausführlich beschrieben und im Kontext des Tibetischen Buddhismus sehr wertgeschätzt.

Unterschiede im Erleben reinen Bewusstseins in der Meditation bei Tageslicht und im Dunkelretreat

Meiner eigenen Erfahrung nach ist das Erleben dessen, was Metzinger “epistemischer Raum” nennt, also eines für Erkenntnis offenen oder bereiten, inneren Raumes sowie die Erfahrung “körperloser Körperlichkeit”, also die Erfahrung eines entgrenzen Körpers ohne Peripherie und Zentrum, im Dunkelretreat viel intensiver als während der Meditation bei Tageslicht in einem Zen-Sesshin. Diese Phänomene können durch das Fehlen äußerer visueller und zuweilen auch auditiver Stimuli und die daraus hervorgehende Reduzierung der Aktivität im Spiegelneuronensystem erklärt werden.

Vollständige sensorische Deprivation und ihre Folgen

Ein Dunkelretreat stellt eine Form der vollständigen sensorischen Deprivation dar, insbesondere in Bezug auf visuelle und häufig auch auditive Reize. Ohne Licht fehlt die visuelle Bestätigung der eigenen Körperlichkeit sowie der Umgebung. Diese Bedingungen führen zu einer intensiven inneren Wahrnehmung, da das Gehirn beginnt, in Ermangelung äußerer Stimuli, verstärkt innere Empfindungen und Zustände zu verarbeiten. Meditiert man zusätzlich bewegungslos in der Dunkelheit, sind auch keine propriozeptiven Signale mehr vorhanden, also Signale, die aus der Bewegung des eigenen Körpers stammen, was das Gefühl der körperlichen Entgrenzung zusätzlich fördert. Diese erhöhte Sensibilität für innere Zustände kann zu tiefen meditativen Erlebnissen der Stille, aber auch von visuellen und gar auditiven Halluzinationen/Visionen und einer verstärkten Selbstreflexion sowie der Erfahrung einer intensiveren inneren Helligkeit führen.

Spiegelneuronensystem und Körperwahrnehmung

Das Spiegelneuronensystem spielt eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion und Aufrechterhaltung des Körperschemas im Gehirn, indem es Bewegungen und Handlungen sowohl bei einem selbst als auch bei anderen verarbeitet. Im Dunkelretreat wird dieses System kaum mehr aktiviert, da keine visuelle Beobachtung des eigenen Körpers oder der anderer Menschen möglich ist. Diese Reduktion externer visueller Informationen kann dazu führen, dass das Gehirn viel weniger externe Referenzen hat, um das Körperschema zu aktualisieren. In der Folge kann dies zu einer “Auflösung” des gewohnten Körpergefühls führen, da die Grenzen und das gespürte Zentrum des Körpers sich vollkommen auflösen.

Neuroplastizität und Anpassung

Die Anpassungsfähigkeit des Gehirns, bekannt als Neuroplastizität, ermöglicht es dem Bewusstsein, neue Wege der Wahrnehmung und des Selbstbewusstseins zu entwickeln, besonders unter ungewöhnlichen Bedingungen wie denen eines Dunkelretreats. Die Abwesenheit von Licht führt nicht nur zu einer verstärkten inneren Wahrnehmung und der Entstehung innerer Helligkeit und visueller Halluzinationen/Visionen, sondern kann auch neuroplastische Veränderungen begünstigen, die neue Formen entgrenzter Selbstwahrnehmung und eines entgrenzten Körperbewusstseins fördern.

Fazit

Die Erfahrung der vollständigen Dunkelheit, mit ihren Auswirkungen auf die sensorische Deprivation und das Spiegelneuronensystem wirft Licht auf gewisse komplexe Mechanismen, die unsere Erfahrung innerer Helligkeit, sowie der körperlichen und räumlichen Selbstwahrnehmung drastisch verändern. Insgesamt ermöglicht die einzigartige Umgebung eines Dunkelretreats eine tiefere Versenkung in meditative Zustände und fördert Erfahrungen, die über das hinausgehen, was bei Meditationen unter weniger restriktiven sensorischen Bedingungen typischerweise erlebt wird.

Hier gehts weiter zum nächsten Teil 7 über Reines Bewusstsein im Tiefschlaf und luziden Traum

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .